0646 - Der Templer-Jäger
geradewegs ins Verderben.«
»Ach, hör auf. Das sagen viele. Die sollen selbst mal in diese Scheiße reinrutschen. Ist doch keine Zukunft mehr! Was bietet man uns denn hier in Paris? Graue Vorstädte, Dreck, keine Perspektive. Wenn du das siehst und darüber nachdenkst, bleibt dir nur der Schuss.«
Audrin war nicht dieser Ansicht. Er dachte über die Worte nach und schaute nicht zurück. Deshalb konnte er auch den Schatten nicht sehen, der sich von der Plakatwand gelöst hatte und nun hauchdünn über den Boden hinwegstrich.
Einer der jungen Männer sprach das Mädchen an. »He, Kiki, was ist mit dir los?«
»Lass mich.«
»Hast du dir den Bürotrottel aufgerissen?«
»Leck mich.«
»Später, Süße.«
»Vielleicht kannst du den Sprung noch schaffen«, versuchte es Audrin wieder. »Wie sieht es mit deiner Schulbildung aus?«
»Nur die Hälfte.«
»Das ist in der Tat nicht viel.«
»Weiß ich auch, aber was willst du machen?«
»Starte noch einen Versuch. Setz dich wieder auf die Schulbank. Reiß dich zusammen. Versuche es von vorn. Ich finde, dass so etwas nicht schaden kann.«
»Nein, es ist…« Kiki schaute zu Boden den und winkte mit beiden Händen. »He, wo kommt der denn her?«
»Was?«
»Dieser Schatten!«
Auch Stefan Audrin sah jetzt hin und entdeckte den grauen Schatten, der aussah wie ein menschlicher Umriss, aber weder von ihm noch von dem Mädchen stammte.
»Das weiß ich auch nicht.«
»Mann, du bist doch schlau.« Sie kicherte, weil der Schatten wanderte und sich ein Ziel ausgesucht hatte.
Es war Stefan Audrin!
Der rührte sich nicht von der Stelle. Die Überraschung hatte ihn stumm und steif werden lassen. Er bekam nur mit, wie der Schatten plötzlich seine Füße erreichte, dort aber nicht abstoppte, sondern an ihm in die Höhe glitt. Und da spürte er ihn.
Er strahlte eine Kälte aus, mit der er nicht gerechnet hatte. Sie drang durch den Stoff des Mantels und der Hose. Sie strich wie Eis an seinen Beinen hoch, und erst als sie die Oberschenkel erreicht hatte, zuckte er zusammen.
Das fiel Kiki auf. »He, was hast du denn, Mann? Du - du siehst so komisch aus…«
»Mir ist kalt.«
»Wie?«
»Ich friere!«
Kiki senkte den Blick, hob den Kopf wieder und schaute sich den Historiker genau an.
Der war dabei, sich zu verändern.
Nicht vom Körper her, nein von der Haltung, vom Gesicht aus, denn er musste etwas spüren, das man nur mit dem Begriff Schmerzen umschreiben konnte.
Plötzlich empfand Kiki Mitleid. »He, was ist los mit dir? Was geschieht da?«
Audrin war der Schweiß auf die Stirn getreten. »Der Schatten!«, keuchte er. »Der ist über mich gekommen. Er - er zerdrückt mich, er will mich vernichten, zerquetschen, töten…«
Kiki lachte auf. »Du bist verrückt«, sagte sie und fasste den Mann an. Ihre Hand zuckte wieder zurück, denn sie hatte die Kälte gespürt.
Audrin brach der Schweiß aus. Er litt unter schrecklichen Qualen. Mit zwei kleinen Schritten taumelte er nach links und drückte dabei Kiki zur Seite.
Jetzt wurden auch die anderen Junkies aufmerksam. Aus großen Augen schauten sie zu, wie sich Stefan Audrin quälte. Er konnte sich nicht mehr normal bewegen, schaukelte mal nach rechts, dann wieder zur anderen Seite hin, fing sich, beugte sich plötzlich nach vorn und lief mit unverhältnismäßig schnellen, trippelnden Schritten auf die Wand zu. Zwei Junkies wichen ihm aus. Ihre Gesichter waren noch bleicher als sonst. Sie verstanden die Welt nicht mehr.
Audrin lief gegen die Reklametafel. Mit einem dumpfen Laut prallte er dagegen. Plötzlich rann Blut aus seiner Nase. Als er sich umdrehte, war sein Gesicht verschmiert.
Noch hielt er sich auf den Beinen. Die anderen starrten ihn aus entsetzten Gesichtern an. Er starrte zurück. Auch weitere Zuschauer hatten sich eingefunden, und einigen von ihnen war klar geworden, dass dieser Mann hier einen Todeskampf ausfocht. Seine Hände hatte er auf den Leib gepresst, über den der Schatten zog. Dunkelgrau und zitternd bewegte er sich, sodass er den anderen einschnürte.
Der Mund des Mannes stand offen, die Zunge hatte sich hervorgeschoben. Das Gesicht war blau angelaufen, und Kiki schrie mit schriller Stimme, was die anderen dachten.
»0 Mann, der stirbt!«
Noch konnte sich Audrin auf den Beinen halten, auch wenn er in den Knien eingeknickt war. Aus seinem Mund drang zischend der Atem. Dann wand er sich in krampfhaften Zuckungen, schrie laut auf, wobei sich der Schrei mit den fauchenden Geräuschen eines
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