Ritter 01 - Die Rache des Ritters
Prolog
England, 1140
Die Erde erbebte nicht länger unter dem Donnern der Pferdehufe, und auch das Klirren der Waffen war verstummt. Die Luft war erfüllt vom Rauch, der aus den schwelenden Ruinen der Burg hoch oben auf dem Hügel und dem geplünderten Dorf zu dessen Füßen aufstieg. Das Werk der Zerstörung war vollbracht, der Feind wieder abgezogen. Denn es war nicht die Burg gewesen, die zu fordern er gekommen war.
Ein leichter Wind erhob sich und wehte über das mit Leichen bedeckte Schlachtfeld, strich wie eine Geisterhand über die Gemetzelten bis dorthin, wo der Junge lag – verwundet, mit dem Gesicht auf dem Boden. Der Wind zersauste sein dunkles Haar und lockte ihn zurück ins Bewusstsein, als er seine verletzte, blutende Wange streichelte.
»Mutter?«, murmelte der Junge, obwohl er wusste, dass sie tot war. Dass sie vor seinen Augen abgeschlachtet worden war, von Baron Luther d’Bussy, einem der ruchlosesten Warlords König Stephens. Weil sie sich geweigert hatte, seine Hure zu werden. Sich geweigert hatte, das Bett des Mannes zu teilen, der ihren Gatten drei Tage zuvor bei einem Turnier getötet hatte.
Der Junge schluchzte, als er daran dachte, keuchend rang er nach Atem und musste würgen, als er Wynbrookes Erde in seinem Mund fühlte, die sich mit dem metallenen Geschmack seines Blutes mischte.
Knapp außerhalb seiner Reichweite lag der Siegelring seines Vaters, das Andenken, das seine Mutter weinend ihrem toten Gatten vom Finger gezogen hatte, nachdem man ihn feierlich aufgebahrt hatte. Trotz des Lärms der Belagerung, der die Steinwände der kleinen Kapelle an jenem Morgen hatte erbeben lassen, war ihre Stimme gut zu hören gewesen.
»Verwahre ihn gut, Gunnar«, hatte sie gesagt und ihm den Ring in die Hand gedrückt, »und erinnere dich an den Mut deines Vaters … seine Ehrenhaftigkeit. Trage ihn, wenn du erwachsen bist, und lass mich stolz auf dich sein.«
Aber das hatte er nicht geschafft. Zu seiner Schande hatte er stattdessen mit ansehen müssen, wie sie starb. Ein Wachsoldat hatte ihm die Arme auf den Rücken gedreht und ihn festgehalten, als er hilflos und voller Angst um das Leben seiner Mutter gefleht hatte. Er hatte das höhnische Lachen des betrunkenen Barons ertragen. Und die Schläge. Und hatte einen Augenblick später vor Entsetzen geschrien, als d’Bussys Schwert dem Leben seiner Mutter ein Ende gesetzt hatte.
Wie es ihm gelungen war, sich aus dem eisernen Griff seines Bewachers zu befreien, wusste Gunnar nicht mehr. Er erinnerte sich nur noch daran, dass er gerannt war. Aus der Burg, den Hügel hinunter und über das Feld, so schnell er konnte – mit einem Ritter zu Pferde ihm dicht auf den Fersen. Mit schweren Beinen und Lungen, die kurz vor dem Bersten waren, flüchtete er zum Fluss, weil er dachte, er könnte sich in den Dornenbüschen verstecken, die das Ufer säumten. Der Gedanke hatte kaum Gestalt angenommen, als Gunnar über die donnernden Hufschläge hinweg gehört hatte, dass ein Schwert aus der Scheide gezogen wurde. Dann, binnen eines Augenblicks, war die Welt, war das Leben schwarz geworden.
Als seine Sinne begannen, unter dem Schleier aus Schmerz zu erwachen, hörte Gunnar das Ächzen eines Karrenrades und Stimmengemurmel. Es waren die Stimmen von zwei Männern: Der eine war ganz nah, der andere folgte ein Stück weit dahinter. Schritte verhielten neben Gunnars Kopf.
»Komm her, Merrick!«
Gunnar kannte den Mann, der gerufen wurde, erkannte den alten Heiler an seinem humpelnden Gang, als er näher kam. Die Zweige und die Tannennadeln, die den Boden bedeckten, knackten unter seinen Füßen. Der vertraute Geruch nach Kräutern hing in seinen Kleidern.
»Schau dir an, was ich neben diesem unglückseligen Dieb gefunden habe.«
Merrick schnalzte mit der Zunge, seine Stimme klang düster. »Das ist der Siegelring der Rutledges. Der Rubin.«
»Bist du sicher?«
»Aye. Gestern Abend in der Kapelle steckte er noch am Finger des toten Lords. Und falls du vorhast, ihn für dich zu behalten, mein Freund, dann bedenke, welchen Preis dieser junge Bursche zahlen musste, dass er ihn gestohlen –« Merrick holte plötzlich laut Luft. »Jesus!«, stieß er dann hervor und ließ sich auf die Knie fallen. »Der hier vor uns liegt, ist kein Dieb, Mann. Sieh doch genauer hin! Es ist der junge Lord Gunnar!«
Harte Finger tasteten Gunnars geschundenen Rücken ab, zogen den festgeklebten Leinenstoff seiner zerrissenen Tunika von den Wunden. Der alte Mann stieß einen Fluch
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