065 - Überfallkommando
Stirn zurückgebürstet, was ihr in gewisser Weise ein etwas altmodisches Aussehen gab. Sie hielt sich gerade, beinahe steif, als ob sie dadurch ihre Zurückhaltung ausdrücken wollte. Es war nicht leicht, sich ihr zu nähern. Die Männer hielten sie für kalt und abweisend und sagten, daß sie keinen Spaß verstehe, weil sie nicht über ihre Witze lachte. Der Ausdruck ihrer großen, grauen Augen konnte bisweilen sehr hart und streng sein. Ihr Bruder Ronnie allein hatte gewußt, wie sanft und mild sie blicken konnte; aber Ronnie war nun tot, und keinem anderen Mann hatte sie jemals einen liebevollen Blick geschenkt.
Ihr klarer Verstand und ihre Charakterstärke machten sie fähig für den Kampf gegen ein hartes Geschick. Sie besaß einen unbeugsamen Willen und ausdauernden Mut.
Das also war Ann Ferryman! Mark hatte sie vorher noch nie gesehen und war überrascht von ihrer anmutigen Erscheinung.
Sie reichte ihm ihre kalte Hand, und er drückte sie. Einen Augenblick hielt er sie fest, dann ließ er sie wieder los. Er wußte kaum, wie er das Gespräch mit Ann beginnen sollte.
»Tiser hat Ihnen schon alles erzählt?«
Sie nickte ernst.
»Vor vierzehn Tagen las ich den Bericht in der Zeitung. Ich bin Lehrerin an einer Schule in Paris, und ich lese dort auch die englischen Blätter. Aber ich wußte nicht« - sie machte eine Pause -, »daß Ronnie hier unter falschem Namen lebte.«
»Das hätte ich Ihnen vorher mitteilen können«, sagte Mark, »aber ich hielt es für besser, damit zu warten, bis alles vorüber war.«
Marks Stimme klang so teilnehmend, daß Mr. Tiser, dessen Blicke unruhig im Raum umherschweiften, seinen Gefährten plötzlich überrascht und erstaunt ansah. Mark spielte seine Rolle wirklich ausgezeichnet!
»Ich befand mich in einer sehr schwierigen Lage«, fuhr Mark leise fort. »Sehen Sie, Ronnie hat das Gesetz übertreten, und ich habe es auch getan. Man überlegt es sich natürlich, bevor man sich selbst beschuldigt.«
»Ja, ich weiß, Ronnie war nicht ...«, sie zögerte. »Er war sein ganzes Leben hindurch vom Unglück verfolgt, der arme Junge! Wo hat man ihn denn gefunden?«
Mark zeigte auf die schlammige Bucht hinaus.
»Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, Miss Ferryman. Ihr armer Bruder und ich waren Schmuggler. Ich weiß, daß das strafbar ist, und ich entschuldige mich nicht. Ihnen will ich auch das Letzte sagen. Die Polizei war darauf aus, uns eine Falle zu stellen. Die Leute glaubten, daß Ronnie nicht dichthalten würde. Zufällig erfuhr ich, daß sie ihm verschiedene Angebote machten - sie hofften, er würde die Organisation verraten. Das klingt zwar etwas pathetisch, aber es ist die Wahrheit.«
Ann schaute von Mark auf Tiser. Der alte Li war hinter den Vorhängen seiner Kammer verschwunden.
»Mr. Tiser sagte mir, daß Ronnie von Polizeibeamten ermordet wurde - es ist kaum zu glauben!«
Mark zuckte die Schultern.
»Es gibt nichts Unglaubliches, was die Londoner Polizei nicht fertigbrächte«, erwiderte er trocken. »Ich will ja nicht behaupten, daß sie die Absicht hatten, ihn zu töten, aber es ist nun einmal Tatsache, daß sie ihn niederschlugen. Sie müssen ihn gefaßt haben, als er in einem Boot von einem der Schiffe zurückkam, die uns Schmuggelware liefern. Entweder hat er einen Schlag bekommen, daß er ins Wasser stürzte, oder sie haben ihn nachher ins Wasser geworfen, als sie sahen, wie schwer, vielleicht sogar lebensgefährlich, sie ihn getroffen hatten.«
»Inspektor Bradley war es?« »Ja, so heißt der Beamte. Er hat Ronnie immer gehaßt. Bradley ist einer dieser geschickten Leute von Scotland Yard, die nur geringe Bildung besitzen und von Minderwertigkeitsgefühlen beherrscht werden.«
Hinter dem Vorhang ertönte plötzlich der weiche, klagende Klang einer Violine. Mark fuhr herum, aber Ann legte ihre Hand auf seinen Arm und gab ihm ein Zeichen, ruhig zu sein.
Die süße, melancholische Melodie von Tostis »Chanson d' Adieu« erfüllte den Raum.
»Wer spielt da?« fragte sie leise.
Mark zuckte ungeduldig die Schultern. »Ach, das ist der Alte - Li Yoseph. Ich möchte doch, daß Sie mit ihm sprechen.«
»Li Yospeh - er hat gesehen, wer Ronnie umbrachte?«
Mr. Tiser mischte sich plötzlich in die Unterhaltung.
»Aus ziemlicher Entfernung«, sagte er nervös. »Genau natürlich nicht. Ich habe Ihnen das doch schon alles erklärt.«
Marks kalter Blick brachte ihn zum Schweigen.
»Es ist schon gut, Tiser. Sage Li Yoseph, daß er herauskommen soll.«
Das
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