0655 - Der Tod in Moskau
Wohnung.
Seine Initiative überraschte die Blonde. Erst, als sie die Wohnung betraten, verlor sie ihre Verwirrung und Unsicherheit ein wenig. Wieder tastete ihre Hand nach dem Dolch, während sie sich um Saranow herum schob und mit dem Rücken an die Wohnungstür lehnte, die er gerade hinter ihnen beiden zugezogen hatte.
»Was soll das? Was haben Sie mit mir vor?« fragte sie mißtrauisch.
Ihre ganze Körperhaltung drückte Anspannung aus. Sie beobachtete Saranow, bereit zu kämpfen, wenn es sein mußte. Der große Zweizentnermann zog sich in Richtung Wohnzimmer zurück und überlegte, woher ihr Akzent kam. Sie sprach das Russisch seltsam weich, aber auch nicht so nasal wie die Franzosen…
Sie schien mit der Sprache nicht die geringsten Probleme zu haben, aber Saranow war sicher, daß es nicht ihre Muttersprache war.
Er zögerte einen Moment, dann nahm er die Wodkaflasche aus dem Schrank und stellte zwei Gläser auf den kleinen Tisch, die er bis fast zum Rand füllte. Dann ließ er sich in seinen Lieblingssessel sinken, nahm eines der Gläser zur Hand und wartete ab.
Blieb sie, oder ging sie wieder?
Er hatte sie in die Wohnung geholt, aber jetzt ließ er ihr die freie Entscheidung, was sie tun würde.
Nach einer Weile betrat sie das kleine Wohnzimmer. Blitzschnell sah sie sich um, als versuchte sie mögliche Gefahren rechtzeitig zu entdecken.
»Bitte…«
Er deutete auf den anderen Sessel und das Wodkaglas auf dem Tisch.
Die Blonde bewegte sich nicht aus der Türnähe.
»Was das soll? Was ich mit Ihnen vorhabe?« griff er ihre Frage von vorhin wieder auf. »Ich wollte Sie von der Straße wegholen. Es ist nicht gut für eine junge Frau, in dieser doch recht, hm, freizügigen Kleidung am Abend allein durch die Stadt zu laufen, noch dazu in Ihrem Zustand der Verwirrung. Ich habe nichts mit Ihnen vor - außer, Ihnen zu helfen, wenn ich kann. Setzen Sie sich und trinken Sie. Es ist kein Gift, und ich beiße auch nicht.«
Wieder lächelte er.
Sie beugte sich vor. Nahm das Glas, kam zu ihm - und nahm ihm seines blitzschnell aus der Hand, um ihm dafür ihres hineinzudrücken. Dann beobachtete sie ihn.
»Wie in einem Amazonenfilm«, murmelte er. »Ganz schön gerissen und vorsichtig. Na sdarowje.«
Er setzte das Glas an die Lippen und trank.
Da trank sie auch - und begann zu husten. Sie fiel förmlich rückwärts in den Sessel, setzte das halb leere Glas knallend auf die Tischplatte. Wütend fuhr sie ihn an: »Kein Gift, eh? Was dann?«
»Wässerchen«, sagte er. »Wodka. Zugegeben, es ist ein etwas scharfes Wässerchen. Unser Nationalgetränk. Damit begrüßen wir alle unsere Gäste und Freunde.« Er leerte sein eigenes Glas endgültig. »Darf ich noch einmal nachschenken?«
»Wenn das Ihre Hilfe ist«, sagte sie abfällig. »Nein, danke.«
Schulterzuckend füllte er nur sein Glas wieder.
»Woher kommen Sie?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, gab sie zurück.
»Aber Sie wissen, daß ein Einhorn Sie abgeworfen hat und dann verschwand.«
»Sie glauben mir nicht.«
Er zuckte mit den Schultern. »Töchterchen, ich weiß nicht, was ich glauben soll, solange ich nicht mehr über Sie weiß. Haben Sie irgendwelche Ausweispapiere bei sich?«
Sie tastete ihre Lederkleidung ab und schüttelte dann den Kopf. »Offenbar nicht. Wo befinde ich mich überhaupt? Ich meine, in welcher Stadt, in welchem Land?«
»Moskau, Rußland.«
Sie atmete tief durch. »Bei Merlin, wie bin ich denn hierher gekommen? Ich verstehe das nicht!«
Er horchte auf. Merlin?
»Weshalb erwähnen Sie ihn? Merlin? Was wissen Sie von ihm?«
Etwas hilflos sah sie ihn an. »Ich verstehe nicht«, erwiderte sie leise. »Ich glaube, ich sollte gehen.«
Während sie sich erhob, runzelte Saranow die Stirn. Er überlegte, was er tun sollte. Der Name Merlin hatte ihn elektrisiert. Er glaubte nicht, daß sie irgendwelchen Unsinn daherredete. Sie schien ihr Gedächtnis verloren zu haben. Aber bestimmte Grundkenntnisse waren vorhanden; sie beherrschte die Sprache, sie wußte, was Ausweispapiere waren. Aber sie besaß keine.
Saranow konnte sie nicht festhalten. Aber wenn er sie zur Polizei brachte, war das vielleicht auch nicht gut. Irgend etwas stimmte mit diesem blonden Mädchen nicht; man würde Fragen stellen, wesentlich weniger zurückhaltend, man würde sie erkennungsdienstlich behandeln und…
Nein, das kam nicht in Frage.
»Ich besorge Ihnen eine Unterkunft«, sagte er und erhob sich. »Ein Hotelzimmer.«
»Ich habe kein Geld, um es zu
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