0680 - Todeskuß der Schattenhexe
die Szene auch in den Filmen gespielt worden. Den Mund öffnen, den Kopf des Opfers zur Seite drehen, dann der Biss.
Das war hier nicht der Fall.
Die schattenhafte Frau vor ihm spitzte die Lippen. Ihr Mund bewegte sich dabei zuckend, und sie tat es mit einem gewissen Genuss oder einer starken Vorfreude auf kommende Ereignisse.
Sarge konnte sich darauf keinen Reim machen, bis er plötzlich die Lippen auf den seinen spürte, nachdem sie sich durch das Bartgestrüpp gewühlt hatten.
Es traf den Mann wie ein Blitzschlag. Er sah seine Umgebung nicht mehr. Feuer umloderte ihn von innen und außen. Sarge wusste nicht, was mit ihm geschah. Es war einfach zu schrecklich, die Angst verdoppelte sich und wurde zur Todesfurcht.
Er »hörte« den Kuss.
Ein widerlich klingendes Schmatzen und Saugen. Seine eigenen Lippen schienen aus dem Gesicht herausgerissen zu werden. Schmerzen zuckten bis hinab in seinen Hals.
Was ist das?, dachte er noch, dann brach er in die Knie und rutschte dabei vor dem Körper der Schattenfrau entlang. Auf dem kalten Steinboden brach er zusammen. Er wollte atmen und stellte fest, dass ihm dies nicht gelang. Das Grauen hatte ihn stumm gemacht und natürlich das Wissen, es nicht mehr zu schaffen.
Es wunderte Sarge, dass er noch den Kopf heben und eine Frage formulieren konnte.
»Wer bist du?«
Ein Windstoß aus Worten strömte ihm entgegen. »Ich bin die Schattenhexe…«
Da hatte er seine Antwort bekommen. Nur konnte er damit nichts mehr anfangen, denn sein Ende spielte sich in der nächsten Minute ab. Er schrie plötzlich auf, als ein wahnsinniger Schmerz von innen hochstrahlte. Der Oberkörper dehnte sich wie eine Sehne, die Augen traten ihm aus den Höhlen, dann war das helle, aber gleichzeitig schattenhafte Licht da, das seinen Körper umflorte.
Nichts hielt ihm stand.
Sarge, der Berber, verglühte auf dem eiskalten Flurboden des ehemaligen Krankenhauses.
Zurück blieben nur noch weiße Knochen…
***
Ich hatte geduscht, mich angezogen, gefrühstückt, Suko abgeholt und mich neben ihn in den Rover gesetzt, um diesmal nicht zum Dienst zu fahren. Das Büro konnte warten.
Das heißt, Dienst hatten wir schon, und der sollte sich bei Chefinspektor Tanner abspielen, einer der Chefs der London City Police und verantwortlich für Morde und andere Untaten.
Sir James persönlich hatte mich angerufen und von einer großen Schweinerei gesprochen.
»Und was, Sir, ist es gewesen?«
»Ein Rätsel«, hatte der Superintendent gesagt.
»Welches?«
»Der Fall ist bereits eskaliert. Es ist nicht der erste Tote. Aber fragen Sie am besten Tanner.«
Das wollten wir auch und hatten auf der Fahrt natürlich Gesprächsstoff genug.
Wir hatten uns in den letzten Tagen nicht in London herumgetrieben und waren nicht so gut darüber informiert, was sich in der Millionenstadt an Grauen anbahnte.
»Wie hat denn die Stimme des Alten geklungen?«, fragte Suko, als wir vor einer Ampel stoppten.
»Nicht besonders.«
»Stress?«
Ich nickte. »Kann es geben.«
Suko stellte das Gebläse höher, damit der Dunstfilm völlig von der Scheibe verschwand. Über London lag wieder einmal die Kälte wie eine große Glocke. Sie drückte alles zusammen, und es gab nicht wenige Menschen, die darunter litten.
Wenn unser Freund Tanner freiwillig um Hilfe bat, war der Bär los. Er gehörte zu den alten Praktikern, die nie in Panik gerieten und die sich ziemlich zurückhielten, wenn es um außergewöhnliche Verbrechen ging. Mit welcher Überraschung er an diesem Morgen aufwarten würde, darüber konnten wir nur rätseln.
Wir brauchten uns nicht sehr weit durch die City zu quälen, einen Verkehrsstau gab es trotzdem.
Glücklicherweise schneite es nicht, nur an den Straßenrändern lag noch Eis.
Einen Parkplatz fanden wir auf dem Hof der Dienststelle und wurden von anderen Kollegen bedauernd angeschaut.
Suko wollte mehr über die Motive der Blicke wissen.
»Der Alte ist in Hochform«, hieß es.
»Ach - hat er seinen Hut gefressen?«
»Noch nicht. Aber er steht dicht davor. Viel Spaß.« Die Kollegen waren froh, verschwinden zu können.
»Hast du das gehört, John?«
»Ja, der Hammer dampft wieder.«
»Und er wird auf unsere Köpfe krachen.«
»Mal sehen.«
Wir sahen Tanner nicht, wir hörten ihn nur. Er telefonierte, und seine laute Stimme drang durch die geschlossene Tür bis hinein in den überheizten Flur.
Eine Mitarbeiterin huschte mit blassem Gesicht an uns vorbei. Wahrscheinlich hatte sie ihren morgendlichen
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