0698 - Karneval des Todes
hervorzuziehen.
Es stand nicht gut um die Magierin.
Claudia Salvador atmete nur noch sehr flach. In den wenigen Minuten seit Morettas Erscheinen schien sie um mindestens ein Dutzend Jahre gealtert zu sein.
»Energie…«, flüsterte Claudia. Nicole strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Die Stirn fühlte sich eiskalt an. »… je schwächer ich werde, desto mehr erstarkt der Dottore…«
Nicole überlegte fieberhaft, wie sie ihrer Gastgeberin helfen konnte. Sie fühlte den Puls der Verletzten. Er war nur noch sehr schwach. Alle ihre Zauberkräfte nutzten der Magierin von Cannaregio in diesem Moment offenbar überhaupt nichts. Zu massiv war der Angriff gewesen.
Und dann fiel ihr die Lösung ein.
Nicole beugte sich weit über die am Boden liegende, schon halb mumifizierte Frau. Sie drückte Merlins Stern sanft gegen Claudias Körper.
Das magische Kleinod hatte so unendlich viel Kraft in sich gespeichert. Wahrscheinlich würde schon ein wenig davon ausreichen, um die Energie der Verletzten wieder aufzubauen.
Nicole blieb bei Claudia und hielt Merlins Stern fest in beiden Händen.
Sie fühlte, dass sie das Amulett in dieser Nacht noch dringend benötigen würde…
***
Der Plan des Dottore ging auf.
Zufrieden betrachtete der Dämon von seinem weiter entfernten Beobachtungsposten aus den Golem und diesen fremden Weißmagier, wie sie aus dem Haupteingang des Schwarzen Palazzos traten.
Der Dottore hatte den Arlecchino und Moretta vorgeschickt, um die Kräfte seiner Gegner zu zermürben. Wahrscheinlich waren beide inzwischen schon vernichtet worden.
Aber das störte den Dämon nicht. Sie waren ohnehin nur Schachfiguren in seinem teuflischen Spiel gewesen.
Lautlos glitt der Dottore in eine der vielen Seitengassen. Er sprang an Bord eines Ruderbootes, das vor einem verwaisten Laden vertäut lag.
Wie ein Totenvogel mit ausgebreiteten Schwingen wirkte der unheimliche Kostümierte mit der Vogelmaske. Er sprang mit unmenschlich weiten Sätzen von einem Boot zum nächsten.
Der Dottore schlug einen Bogen, um Emilio und den Weißmagier zu umgehen. Mit denen würde er sich später befassen. Jetzt hatte er erst einmal Wichtigeres zu tun.
Und für diese beiden wackeren Helden hatte der Dottore noch ein paar Überraschungen vorbereitet. Sein zerfressenes Leichengesicht hinter der Maske verzog sich zu einer zynischen Grimasse.
Als der Dottore ein Boot am äußersten Rand des Stichkanals erreicht hatte, kappte er lautlos die Trossen. Fast unhörbar tauchte er die Ruder ins Wasser. Mit seinen dämonischen Kräften konnte er das Boot fast so schnell vorwärts bewegen, als wenn es einen Motor hätte.
Während der Golem und der Weißmagier in den Gassen nach ihm suchten, würde sich der Dottore von der Wasserseite aus dem Palazzo nähern.
Gedämpft klang die Tanzmusik zu ihm hinüber, als er mit dem Bootsbug gegen den kleinen Anleger vor dem Palazzo stieß. Hier war auch Claudias Gondel vertäut. Sie würde keine Gelegenheit mehr haben, sie zu benutzen…
Mit katzenhafter Eleganz sprang der Dottore wieder an Land. Er trat vor die schmale Eingangspforte.
Seine zerfetzten Lippen flöteten die Melodie, die er von dem Zwerg gehört hatte. Gleich darauf berührte seine behandschuhte Rechte das Eichenholz der Tür.
Es funktionierte!
Der Dämon wurde nicht von den Kräften des weißmagischen Schutzschirms in Stücke gerissen.
Er machte eine kurze Bewegung mit dem rechten Zeigefinger. Das Schloss zersprang krachend. Er stieß die Tür nach innen auf.
Der Dottore betrat den Palazzo…
***
In diesem Teil von Cannaregio glich Venedig einer Geisterstadt.
Von 1512 bis 1797 war dieser Stadtteil das Juden-Getto gewesen; von hier stammte auch der längst weltweit bekannte Begriff »Getto«. Für geraume Zeit konzentrierte sich hier auch das gesamte Finanzgeschäft der venezianischen Republik, so dass man die Juden - abgesehen von den »üblichen« Schikanen und Diskriminierungen wie maßlos überhöhten Steuern und dem Zwang zum Tragen besonderer, gelber Kleidung sowie dem Verbot, diverse Berufe zu ergreifen - einigermaßen in Ruhe ließ; Judenverfolgung ist bei weitem keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern fand leider auch schon schon viel früher in vielen anderen Ländern statt, um schließlich während des Dritten Reiches im Holocaust seinen verdammenswerten Höhepunkt zu finden.
Heute ist Cannaregio ein Getto völlig anderer Art - es ist das ärmste Stadtviertel Venedigs…
Zamorra konnte kaum glauben, dass in dem
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