074 - Die mordenden Leichen
Tage? Eine Massenpsychose? Vielleicht war eines davon die Ursache gewesen, vielleicht auch nicht. Warum aber hatte es dann alle Sinne angesprochen, und nicht nur das Auge? Der Geruch des Bösen, die fast körperliche Wahrnehmung, daß es da war, all das war Beweis genug für seine Existenz. Ebenso der schrille, sich überschlagende Schrei, den es ausgestoßen hatte, als das Kruzifix, das Chambers nach ihm geschleudert hatte, zu Boden fiel.
Ein hartes Klopfen an der Tür unterbrach ihn in seinen Reflexionen.
„Nur herein“, rief er und deutete auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch. Zögernd kam sein Besuch näher. Fenner schätzte die schlanke, junge Frau auf knapp über Zwanzig. Sie war geschmackvoll gekleidet, ihr Gesicht zeigte regelmäßige Züge. Keine Schönheit, aber hübsch und sympathisch. Trotz ihres Zögerns wirkte sie selbstsicher.
Susan verließ das Zimmer, das Mädchen nahm graziös Platz.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mich empfangen, Herr Dr. Fenner“, begann sie. Aus ihrem Akzent schloß er, daß sie Amerikanerin war. „Ich möchte unverzüglich zur Sache kommen, und ich hoffe, daß Sie mir behilflich sein können.“
„Selbstverständlich tue ich gern alles für Sie, was in meiner Macht steht. Womit kann ich dienen, Fräulein …?“
Sie lächelte gewinnend. „De Ruys“, sagte sie ruhig, und ihre Stimme zerschnitt die Stille im Raum. „Angela de Ruys.“
Für einen Herzschlag lang vermeinte Fenner, das Blut in seinen Adern gefrieren zu spüren. Seine Gedanken wirbelten chaotisch durcheinander. Er beugte sich ein wenig in seinem Sessel vor und sah mit weit aufgerissenen Augen das Mädchen an.
„De Ruys?“ fragte er ungläubig.
„Ja“, sagte das Mädchen. „Angela de Ruys. Fehlt Ihnen etwas, Herr Doktor? Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber Sie sehen gar nicht gut aus.“
„Nein, nein“, stammelte er. „Ich fühle mich ausgezeichnet. Es war nur Ihr Name. Er wirkte fast wie ein Schock auf mich …“
„Ich kann mir schon denken, was Sie meinen“, unterbrach sie ihn. „Ein Teil meiner Vorfahren lebte hier in dieser Gegend. Das ist auch der Grund, warum ich nach England kam. Ich möchte gerne diesen Ort besichtigen und vielleicht auch dort wohnen, wenn das möglich ist.“
Fenner hatte sich nun wieder in der Gewalt. Die Sache begann, immer phantastischer zu werden. „Soviel ich weiß, starben die letzten de Ruys vor einigen hundert Jahren. Deshalb war ich etwas überrascht, als Sie Ihren Namen nannten.“
„Ich verstehe. Es wird wohl das beste sein, wenn ich ganz von vorne beginne.“
„Ich bitte darum. Die Sache interessiert mich außerordentlich.“
„Sie haben bereits private Nachforschungen betrieben?“ fragte sie.
„Nicht ich, aber ein Freund schreibt ein Buch über diese Familie, und da weiß ich natürlich auch einiges durch ihn. Ich bin überzeugt, daß er Sie brennend gern kennenlernen würde. Aber dazu ist im Augenblick noch Zeit.“
Sie nickte. „Selbstverständlich wäre es für mich interessant, jemanden kennenzulernen, der die Geschichte meiner Familie zu erforschen versucht. Ich selbst habe damit in den Vereinigten Staaten begonnen. Leider wurde es immer schwieriger, der Wahrheit auf den G rund zu kommen, je weiter zurück ich die Geschichte verfolgte. Die Angaben, die weiter zurück als ungefähr zweihundert Jahre reichten, waren vage genug.“
„Das kann ich mir denken.“ Fenner versuchte, seine Worte so vorsichtig wie möglich zu wählen. „Aber wie ich sehe, hatten Sie doch einiges Glück.“
Das Mädchen senkte den Blick und spielte mit dem Verschluß der Handtasche. „Es mag vielleicht seltsam klingen, was ich Ihnen da sage, aber der Name de Ruys ist in Old England, von wo ich komme, sehr alt. Offenbar war der erste de Ruys schon vor mehr als dreihundert Jahren nach Amerika gekommen. Vielleicht habe ich ein wenig daneben gegriffen, aber ich schätze das Datum auf ungefähr 1648 oder 1650.“
„Sie können mit dieser Annahme durchaus recht haben.“
„Jener erste de Ruys war also der Stammvater der amerikanischen Linie. Sein Name war Edmund de Ruys …“
„Edmund de Ruys!“ rief Fenner bestürzt. „Also war doch etwas dran an der alten Legende!“
„Legende?“ Die junge Dame schaute ihn fragend an. „Das verstehe ich nicht ganz. Gibt es etwas, das für mich von Interesse sein könnte?“
Fenner schluckte. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen davon erzählen sollte. Schließlich handelt es sich nur um
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