074 - Echse des Grauens
genau, was der Sterbende eigentlich damit hatte
sagen wollen. Und vielleicht war seine eigene Unsicherheit mit daran schuld,
daß er sie unerwähnt ließ.
»Ich glaube, daß wir die Geschichtsbücher der
Menschheit verändern können, daß wir etwas zum Leben erwecken, wogegen unsere
Alpträume heitere Spielchen sind.« sagte Tanaka Omko und ahnte nicht, wie recht
er damit hatte.
●
Gegen zehn Uhr verließen sie den Pub.
Für Perry Muthly war klar: Er würde mitgehen und aus
Liverpool verschwinden, in der Redaktion lediglich durchblicken lassen, daß er
der größten Sache seines Lebens auf der Spur sei, ohne Einzelheiten
mitzuteilen.
Aber Agatha Stancer wollte er noch mal sprechen. Er
rief in der Wohnung an, ließ es mehrere Male klingeln und wählte dann noch mal
die Nummer.
Schließlich legte er auf. Niemand meldete sich. »Dann eben
nicht«, sagte er gedankenverloren, ehe er die Telefonzelle verließ. »Dann,
Darling, schreibe ich dir eine Karte aus der Antarktis. Vorausgesetzt, daß die
Briefkästen dort nicht zugeschneit sind.«
●
Man fand Agatha Stancer zu einem Zeitpunkt, als Perry
Muthly schon nicht mehr in Liverpool war. Sie hätte um sieben Uhr abends in den
Midland Clinics sein müssen, als sie dort nicht eintraf, rief man sie erfolglos
an.
Agatha Stancer war ein Mensch, auf den man sich
verlassen konnte.
War etwas passiert?
Judith Brawn, eine Kollegin fuhr direkt zur Wohnung,
ehe man die Polizei verständigte.
Der Mini-Cooper der jungen Krankenschwester stand
unten auf der Straße. Sie hielt sich also noch im Haus auf.
Judith warf einen Blick an der Fassade empor und sah,
daß noch sämtliche Vorhänge zugezogen waren.
Schlief Agatha noch?
Als die Kollegin mehrmals heftig klingelte, ohne zu
einem Erfolg zu kommen, meldeten sich doch Bedenken. Die Tür zur Nachbarwohnung
öffnete sich. Eine ältere Frau, deren Beine mit breiten Verbänden umwickelt
waren, weil sie offenbar unter Krampfadern litt, stand auf der Schwelle.
»Sie wollen zu Miß Stancer?«
Judith nickte. »Sie macht nicht auf, aber sie müßte da
sein.«
Die Nachbarin schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das
auch nicht. Miß Stancer geht immer mittags zwischen zwei und drei Uhr zum
Einkaufen. Da bringt sie mir alles mit, was ich brauche. Bei mir geht das
schlecht. Ich habe im Augenblick mit meinen Beinen zu tun. Miß Stancer hilft
mir immer ein bißchen. Sie ist sehr nett. Es wird doch nichts passiert sein?«
»Hat der Hausmeister einen Schlüssel zu allen
Wohnungen? Ist er da?« fragte Judith.
»Mister Hancock wohnt im ersten Stockwerk. Er müßte um
diese Zeit hier sein.«
Die Krankenschwester ging hinunter. Mr. Hancock war
etwa sechzig. Er roch nach Schnupftabak und Schnaps und war in ausgezeichneter
Stimmung. Sofort erklärte er sich bereit, die Wohnungstür aufzusperren, damit
man nach dem Rechten sehen könne.
Die Tür zu Agatha Stancers Wohnung schwang nach innen
auf. Mr. Hancock strahlte. »Na, sehen Sie! Und wenn Sie jetzt drin sind, werden
Sie feststellen, daß Ihre Freundin wahrscheinlich längst unterwegs ist und nur
vergessen hat, die Vorhänge zurückzuziehen.«
Er stand nicht mehr fest auf den Beinen, schwankte wie
ein Schilfrohr im Wind.
Judith Brawn schnupperte sofort. Gas? Nein! Aber
irgendwie roch es brenzlig. Je näher sie dem Schlafraum kamen, desto stärker
wurde der Geruch.
»Agatha?« rief Judith.
Mr. Hancock warf seinen Kopf herum und meinte: »Da
kriegt man ja richtig Appetit, wie?« Er riß die Augen auf. »Riecht nach
gebratenem Fleisch. Allerdings ein bißchen scharf angebraten, würde ich
sagen.«
»Agatha?« Judith Brawn legte die Hand auf die Klinke
zum Wohn- und Schlafzimmer und drückte sie herab.
Die Couch mitsamt dem Bettzeug stand direkt in der
Ecke neben dem Fenster.
»Agatha?« Judith wisperte und fuhr dann zusammen. Im
Bett lag jemand, hatte aber keine Ähnlichkeit mehr mit der attraktiven jungen
Schwester.
Ein zusammengeschmortes Etwas, braun und rissig wie
eine uralte, vertrocknete Mumie. Und es stank nach verbranntem Fleisch!
●
Judith zitterte am ganzen Leib.
Wie von Sinnen warf sie sich herum und rannte laut
schluchzend aus dem Zimmer, ehe Mr. Hancock begriff, was los war.
Judith prallte gegen das Treppengeländer und mußte
sich festhalten. »Rufen Sie…«, entrann es ihren bebenden Lippen, und da sah sie
die alte Nachbarin nur noch wie durch eine wabernde Nebelwand. Entsetzt sah die
alte Dame, wie die Krankenschwester
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