0747 - Jessicas Rächer
Obwohl ich keinen Menschen erwartete, kam ich mir vor wie Heinrich IV., als er seinen schweren Gang nach Canossa angetreten hatte, um eine Buße auf sich zu nehmen.
Ich wollte zwar nicht büßen, doch ich brauchte Sicherheit. Ich musste es wissen, ich musste mich umschauen, ich wollte Gewissheit über bestimmte Dinge haben, die ich noch immer nicht verarbeitet hatte, obwohl ich dabei von meinen Freunden unterstützt worden war. Sie hatten mir mit Rat und Tat zur Seite stehen wollen, aber da war nichts zu machen. Diesen Weg musste ich einfach allein gehen, niemand konnte mir einen Rat geben, denn das alles hatte ich mir selbst eingebrockt und war schließlich über mich gekommen wie ein gewaltiger Sturmwind.
Der Orkan hatte sogar einen Namen gehabt. Jessica Long!
In Pontresina hatte mich der Schock getroffen. Da war mir klar geworden, wer tatsächlich hinter dieser Maske steckte. Einer der alten Dämonen, ein Uralt-Wesen, eine Kreatur der Finsternis.
Sie hatte es nicht geschafft, mich zu töten, ich war schneller gewesen, ich hatte Menschen aus einer schrecklichen Gefahr gerettet, aber froh konnte ich nicht werden.
Auch nicht, weil mir das Problem Elohim durch Raniel, den Gerechten, genommen worden war. Das alles ging mich persönlich nicht so stark an wie das Schicksal der Frau, die mir nicht gleichgültig gewesen war.
Ich hatte mit meinen Freunden wenig über Jessica gesprochen.
Zwischen ihr und mir war es mehr eine stille Sympathie gewesen, vielleicht sogar Liebe, was ich jetzt nicht mehr so stark nachvollziehen konnte, weil die Erinnerung an ihr Ende einfach noch zu plastisch war. Sie hatte Menschen umgebracht und deren Herzen geraubt. Zum Teufel, das musste man sich einmal vorstellen!
Ich konnte es mir nicht vorstellen, es wollte mir nicht in den Kopf.
Das war einfach verrückt, das brachte ich nicht in die Reihe, darunter litt ich.
Natürlich hatte ich gute Ratschläge meiner Freunde gehört, auch meines Chefs Sir James, und die hatten sich wirklich besorgt gezeigt, aber sie konnten mir nicht helfen.
Da musste ich allein durch. Ganz allein.
Deshalb war ich auch gefahren. Nicht mit dem Auto. Ich fühlte mich einfach nicht fit genug, mich hinter das Lenkrad zu setzen, denn ich wollte auf keinen Fall einen Unfall riskieren, was leicht möglich gewesen wäre, da ich mit meinen Gedanken woanders war.
Also hatte ich die U-Bahn genommen und war das letzte Stück des Weges zu Fuß gegangen.
Wieder durchfluteten mich die Erinnerungen, da ich diesen Weg nicht zum ersten Mal zurücklegte. Ich hatte Jessica schon öfter besucht, aber das war kein Vergleich zu dem heutigen Besuch, der mich in eine leere Wohnung führen würde.
Ich besaß keinen Zweitschlüssel, würde gewaltsam eindringen müssen, aber darüber machte ich mir keine Gedanken. Ich wollte in dieses Atelier gehen, um Abschied zu nehmen.
Richtig Abschied von Jessica und auch Abschied von einem Stück Leben. Einer Zeit, die mir gut getan hatte, die ich nicht missen wollte. Manche hätten von einer Selbstqual gesprochen, das aber war es nicht. Ich brauchte die Zeit in der Wohnung, um wieder zu mir selbst zu finden und endgültig Abschied zu nehmen.
Den Weg kannte ich. Aber er war mir noch nie so seltsam vorgekommen wie an diesem Tag. Auch sehr fremd.
Ich sah die Umgebung und nahm sie kaum normal wahr, als wäre sie in Watteschleier gepackt worden. Die Fassaden der Häuser lagen weiter zurück. Dünne, lange Nebelstreifen machten aus ihnen ein graues Einerlei. Die Gesichter der Menschen, die mir begegneten, tauchten dort hinein wie gespenstische Schemen. Ihre Schritte und Stimmen klangen ungewöhnlich leise und gedämpft. Jeder schien nur auf mich Rücksicht zu nehmen, was natürlich Unsinn war.
Ich war in diesen Minuten auch wehrlos. Irgendein Schwarzblüter hätte mich angreifen und vernichten können, ohne dass ich mich dagegen hätte wehren können.
Ich war verwundbar und in Gedanken versunken. Ich rempelte jemanden an, der mich voller Wut gegen eine Hauswand stieß und mir üble Schimpfworte ins Gesicht schleuderte.
Es war ein junger Typ mit einer Glatze. Auf ihr verteilten sich grünrote Tätowierungen. Zeichen aus einer schlimmen Zeit, die es einmal in Deutschland gegeben hatte.
Der Kerl ging weiter. Er lachte noch, war froh dabei, es einem Spinner oder Spießer wieder einmal gezeigt zu haben. Er war dabei um einiges gewachsen.
Ich wischte den Schweiß von meiner Stirn. In meinem Magen lag ein Druck, der mir den Eindruck von Übelkeit
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