0769 - Das Rätsel der schwarzen Madonna
dargestellt.
Die Nische war schon von Beginn an vorhanden gewesen, doch er hatte sie zu einer Höhle ausgearbeitet, in der sich abstoßende und seltsame Gestalten tummelten. Wer sie sah, hatte den Eindruck, in einen Halbkreis zu schauen, in dem sich die Steingestalten verteilten. Zwergenhafte Dämonen mit häßlichen Gesichtern und übergroßen Köpfen. Die haarlosen Wesen hockten oder lagen am Boden, und sie hatten sich mit ihren langen Fingern ineinander verkrallt. Ihre Mäuler standen offen, die Augen schauten nicht, sie glotzten, und sie alle hatten die Köpfe so gedreht, daß sie die Gestalt anschauen konnten, die über ihnen stand.
Es war die schwarze Madonna!
Der Künstler hatte sie in die Nische hineingestellt, so daß sie mit der Rückseite gegen die Wand stieß. Im Gegensatz zu den dämonischen Wesen stand sie ziemlich hoch, und sie konnte auf diese häßlichen Gestalten hinabschauen.
Es war im Prinzip ein Sinnbild, ein Vergleich. Der Sieg des Guten über das Böse.
Das Gute stand hoch, das Böse lag zu seinen Füßen.
Aber etwas störte. Wer sich dieses Kunstwerk genauer anschaute, der mußte einfach ein seltsames Gefühl bekommen, was nicht zuletzt an der schwarzen Madonna lag, die kein Gesicht hatte.
Wo sich eigentlich weiche und vertrauenerweckende Züge hätten abzeichnen müssen, gab es nichts zu sehen, nur die tiefe, finstere Schwärze, wie sie selbst eine schlimme Nacht nicht hervorbrachte.
Absolut schwarz, kein Gesicht, nur dieser lichtlose Stein unter der helleren Kapuze, die ebenso schimmerte wie der übrige Umhang. Eine Mischung aus Grün und Grau.
Kein Gesicht - deshalb auch keine Augen, keine Nase, kein Mund und kein beruhigendes Lächeln, wie man es sonst bei den Madonnen-Figuren sah.
Die hier war anders.
Sie war schlimm.
Sie war ein Neutrum, sie war es einfach nicht wert, bewundert zu werden.
Elenor dachte anders darüber. Es gab für sie nichts Schöneres auf der Welt, denn das war ihre Madonna!
Lächelnd stand Elenor vor der Statue.
Sie schaute hoch, sie konzentrierte sich auf das schwarze, völlig lichtlose Gesicht. Ihre Augen leuchteten, weil sie sich wohl fühlte.
Es ging ihr gut.
Endlich ging es ihr gut, denn sie würde sehr bald den Kontakt mit ihrer Beschützerin hergestellt haben. Dann würde deren Kraft auf sie übergehen und sie erfüllen von Kopf bis Fuß. Sie brauchte die Kraft der schwarzen Madonna, weil sie sich innerlich leer fühlte wie ein Akku, der erst aufgeladen werden mußte.
Das Mädchen bewegte die Lippen. Es hielt leise Zwiesprache mit der Beschützerin, und es spürte weder die Kälte noch die Feuchtigkeit der Kleidung.
Elenor hatte hier eine Geborgenheit gefunden, die ihr ihr Zuhause nicht geben konnte.
Hier fühlte sie sich wohl, hier in der kleinen Kapelle. Hier war ihr eigentlicher Platz, von dem aus sie in die Welt geschickt wurde, um mit Taten zu glänzen, bei dem ihr die schwarze Madonna tatkräftig half.
Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt, so konnte sie zu ihrer Beschützerin aufschauen. Für Elenor war das »Gesicht« wichtig. Keiner hätte etwas in der Schwärze erkannt, nur sie war in der Lage, die Energie in sich aufzunehmen.
Wäre es von der schwarzen Madonna verlangt worden, sie hätte ihr alles gegeben, Seele und Körper, sie wäre sogar für sie gestorben.
Elenor spürte, wie sie etwas bekam. Sie war mit ihr verwachsen, und sie erkannte die Figur als ihre eigentliche Mutter an.
Eine Urmutter, eine Mutter, die über allem stand.
Elenor bewegte die Lippen. Dünn und zitternd drangen die Worte aus dem Mund des Mädchens. Sie sprach von einer Kraft, die sie brauchte, die in sie hineinströmen sollte, um sie wieder zu einer Person zu machen, die von den anderen Menschen geachtet wurde.
»Denn wenn sie mich achten, werden sie auch dich lieben«, flüsterte Elenor. »Ich werde dafür sorgen. Es wird nichts anderes mehr für mich geben.«
Die Madonna schwieg.
Das Mädchen senkte den Kopf. Es erwartete eine Antwort, denn das kannte es von früheren Besuchen her.
Diesmal blieb die Antwort aus!
Es erschreckte sie nicht, es verwunderte sie nur, und sie suchte den Fehler bei sich. Hatte sie etwas falsch gemacht und der Madonna nicht den nötigen Respekt erwiesen?
Elenor Hopkins seufzte langgezogen. »Bitte«, hauchte sie. »Wenn ich dir etwas Unrechtes angetan habe, dann laß es mich wissen. Ich muß es einfach erfahren.« Ihre Worte versickerten in der Leere der Kapelle wie ein geheimnisvolles Raunen, als hätte jemand
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