0772 - Das Gericht der Toten
Lächeln.
»Wie lange ist Ihr Chef eigentlich schon weg?«, fragte Suko.
»Keine Ahnung. Mindestens eine halbe Stunde. Was mich ehrlich gesagt schon wundert.«
»Und er wollte nur nach dem Sessel schauen?«
»Eigentlich ja.«
»Hatte er denn einen Grund?« Suko ließ nicht locker.
Miss Miller runzelte die Stirn. »Weiß ich nicht so genau. Er hat jedenfalls das Frachtpapier mitgenommen. Es kann sein, dass er etwas vergleichen wollte.«
»Ah ja…«
»Wenn Sie ihn sehen, bestellen Sie ihm schöne Grüße. Er wird auch hier verlangt.« Als wollte das Telefon ihre Worte bestätigen, fing es an zu tuten.
Für uns war es das Abschiedssignal. Wie verließen das Büro, und Suko schüttelte den Kopf. »Das ist vielleicht eine Tante«, sagte er, »wie in einem Witzblatt.«
Ich grinste. »Glaubst du denn, dass die mit dem Computer umgehen kann?«
»Das frage ich mich auch.«
Durch die gläserne Außentür betraten wir die normale Umgebung des Flughafens, was auch zu hören war, denn die Geräusche der startenden und landenden Maschinen waren hier die ständige Begleitmusik.
Die Halle A war einfach nicht zu übersehen. Sie stand da wie ein Turm, und auch den Anbau sahen wir. Er schmiegte sich an sie wie eine eckige Schulter.
Wir gingen nebeneinander. Zweimal mussten wir knallgelb gestrichenen Gabelstaplern ausweichen. Einer der Fahrer schimpfte hinter uns her.
Wie es sich gehörte, hatte der Anbau auch eine Tür. Sie quietschte, als wir sie öffneten. Wieder gelangten wir in eine andere Umgebung. Dieser Teil der Halle war nicht so gut isoliert, weil hier nicht so wertvolle Fracht gelagert wurde. Das änderte sich, als wir den Hinweisschildern folgten und einen abgetrennten Teil erreichten.
Wir wussten es nicht genau, wir gingen einfach unserer Nase nach und betraten einen Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Dieser Teil innerhalb der Halle war als Container errichtet worden, aber man hatte für eine gleichmäßige Temperatur gesorgt.
Kaltes Kunstlicht bestrahlte uns. Wir blickten uns um. Um Stankowski zu finden, mussten wir alle Türen öffnen und nachschauen.
Als ich damit anfangen wollte, hielt mich Suko zurück. »Riechst du nichts?«, fragte er.
»Nein, wieso?«
Suko drehte sich auf der Stelle. »Ich habe das Gefühl, als würde es hier nach einem ätzenden Rauch stinken, und zwar nach einem bestimmten, den wir genau kennen.«
»Denkst du an den Teufel?«
»Genau.« Er drehte sich um. Ich ließ ihn vor mir hergehen, und Suko kam mir vor wie ein Spürhund, der eine bestimmte Fährte aufgenommen hatte und sich davon nicht mehr abbringen ließ.
Vor einer Tür blieb er stehen. »Dahinter, John, werden wir die Quelle des Geruchs finden.«
»Dann öffne mal.«
Er tat es. Die Tür quietschte in den Angeln. Es war wie der dünne Ruf eines alten Klageweibs. Gleichzeitig eine Warnung und das Wissen, etwas Schlimmes zu sehen.
Es war auch schlimm, und schlimmer hätte es nicht kommen können. Was wir sahen, jagte uns beiden einen Schauer über den Rücken.
Das war nicht zu fassen, das war einfach grausam und furchtbar.
Wir sahen den Knochen-Sessel, doch er war nicht leer. Eine zusammengesackte Gestalt saß auf dem Kissen. Den Kopf zur Seite gelegt, den Hals durch zahlreiche Wunden verunstaltet, und die Gestalt klammerte sich an dem Sessel fest, als wäre er der letzte Rettungsanker.
Eine der Wunden an seinem Hals war tödlich gewesen!
Neben mir stöhnte Suko leise auf. »Das also ist der Sessel«, sagte er flüsternd. »Dann wird der Tote höchstwahrscheinlich Lemmy Stankowski sein, nehme ich an.«
»Das wird hinkommen.« Ich kannte meine Stimme kaum wieder.
Gedanken und Erinnerungsfetzen schossen mir durch den Kopf.
Schon in New York hatte der Skelett-Sessel ein Opfer gefordert. Da war der Mörder allerdings eine schattenhafte, geistartige Gestalt gewesen, der Hüter des Sessels, wie ich wusste. Durch die Kraft meines Kreuzes war diese Gestalt vernichtet worden. Ich hatte angenommen, dem makabren Möbelstück den Großteil seiner Wirkung genommen zu haben. Wenn ich auf den Toten schaute, musste ich meinen Irrtum einsehen.
»Ja«, sagte Suko, »damit haben wir wohl beide nicht gerechnet – du auch nicht, oder?«
»Bestimmt nicht.«
»Wer?«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich Sukos Frage nicht konkret beantworten konnte. Mir kam sogar in den Sinn, dass der Sessel selbst der Mörder hätte sein können, und ich machte mich auf den Weg, um ihn zu umkreisen.
Auf der Rückseite blieb ich stehen.
Weitere Kostenlose Bücher