0772 - Das Gericht der Toten
Vor mir wuchs der hintere Teil des Schädels hoch. Auch seine Knochen waren mit kleinen Blutspritzern bedeckt. Nur konnte ich beim besten Willen nicht erkennen, wie dieser Mann ums Leben gekommen war. Es blieb nur die Möglichkeit, dass der Sessel für diesen Mord verantwortlich war.
Ein verrückter Gedanke, aber nicht so ohne weiteres wegzuschieben. Hier tat sich etwas, der Sessel hatte reagiert, und er war seiner schlimmen Kräfte nicht beraubt worden.
Suko stand noch vor dem Sessel. Er schaute über die Lehne und auch den Schädel hinweg. »Hast du etwas erkennen können?«
»Nein.«
Ich hatte ihn in alle Details eingeweiht. So war es ganz natürlich, als er sich nach dem Hüter und Sucher erkundigte.
»Nein, Suko, den habe ich vernichtet.«
»Und wenn nicht?«
»Doch, ich habe es. Oder ich kann mein Kreuz wegwerfen, wenn es nicht mehr auf meiner Seite steht.«
»Schon gut, John. Nur sage ich dir, dass wir jetzt umdenken sollten. So schnell wirst du den Sessel wohl nicht nach Frankreich schaffen, obwohl der Abbé darauf wartet.«
Ich gab meinem Freund Recht. »Wir behalten ihn noch hier und werden uns mit ihm beschäftigen.«
Suko hatte mir kaum zugehört. Er war dicht an den Toten herangetreten und untersuchte dessen Hals. »Die Haut sieht aus, als wäre sie von zahlreichen Bissen malträtiert worden. Aber wer, zum Teufel, hat hier gebissen oder die Wunden zugefügt?«
»Der Schädel?«
»Glaubst du daran?«
Ich stieß die Luft zischend aus. »Solange ich keine andere Möglichkeit finde, gehe ich davon aus. Ich weiß selbst, dass es weit hergeholt ist, aber…«
Er unterbrach mich. »Du hast doch bisher nur den Sessel bewegungslos erlebt.«
»Natürlich. Deshalb bin ich ja so überrascht. Was immer hier geschehen ist, es wird uns vorerst ein Rätsel bleiben. Für mich steht fest, dass der Skelett-Sessel mehr Geheimnisse birgt, als wir bisher herausgefunden haben.«
Suko lächelte schief. »Soll ich die Kollegen alarmieren?«
»Ja, tu es.«
Er ging. Bevor er mich passierte, schlug er mir auf die Schulter.
»Gib auf dich Acht.«
»Keine Sorge, ich kenne diesen Sitzplatz.«
Suko deutete auf das Möbel. »Für mich ist er so etwas wie der Vorgänger des elektrischen Stuhls. Nur noch grausamer. Man war damals eben nicht so perfekt und hatte sich auf andere Kräfte verlassen.«
Er ging und ließ mich zurück.
Suko hatte Recht gehabt. Der Geruch, der uns schon im Flur aufgefallen war, hatte sich hier verstärkt. Der Sessel war die Quelle. Das merkte ich, als ich mich bückte und diesen alten Leichengestank aufnahm, der aus den Knochen drang.
Ich verfluchte ihn innerlich.
Plötzlich hasste ich ihn. Hatte dieses Sitzmöbel tatsächlich einmal Hector de Valois gehört, der Person, die ich einmal vor Jahrhunderten gewesen war?
So recht daran glauben wollte ich nicht. Nein, das traute ich meinem geheimnisvollen Ahnherrn nicht zu, denn er stand auf einer ganz anderen Seite.
Ich wusste aber noch mehr. Eine zweite Gruppe wollte den Skelett-Sessel unter allen Umständen in ihre Gewalt bekommen. Es waren die teuflischen Templer, die Baphomet dienten. Sie hatten den rechten Weg verlassen und sich auf den Dämon mit den Karfunkelaugen konzentriert. Sie liebten ihn, sie beteten ihn an, und auch sie wollten den Sessel unbedingt haben, wahrscheinlich für ihren Herrn und Meister.
Ich sah auf den Toten. Er hatte in den letzten Sekunden seines Lebens Schreckliches durchgemacht. Der Hals war von einer Blutkruste bedeckt. Der Sessel musste ein furchtbarer Mörder gewesen sein.
Ich fror plötzlich, und ich hasste diesen Gegenstand. Ich war nahe daran, ihn zu zerstören, doch dieser Anfall ging vorbei, denn so kam ich einfach nicht weiter.
Ich strich über die Lehnen. Verändert hatten sie sich nicht. Das Gebein hatte noch immer eine gewisse Härte, auch wenn es mir vorkam, als wäre es an seiner Oberfläche mit einer dünnen Fettschicht eingerieben worden. Nahtlos gingen die einzelnen Knochenstücke ineinander über. Da schimmerten auch die Gelenke, diese allerdings heller als die Knochen selbst.
Ich hatte vorgehabt, den Skelett-Sessel nach Frankreich nach Alet-les-Bains zu den Templern um Abbé Bloch zu schaffen. Denn auch sie hatten indirekt damit zu tun. Das silberne Skelett in der Kathedrale der Angst hatte mit dem Abbé Kontakt aufgenommen, und durch das Skelett hatte er von dem Sessel erfahren. Wenn es nach ihm ging, dann sollte er in der Kathedrale der Angst seinen Platz finden, wo sich auch das
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