0785 - Der Kinderschreck
musste jedes Wort auswendig kennen. Das stand dann am Ziel ihrer Wünsche.
Oleg wischte über seine Stirn. Er fror trotz der Kälte, die in seinem Körper wie Eissplitter steckte.
»Hast du es gesehen?«
»Ja…«
Olinka legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Bin ich nicht gut, Oleg? Werde ich nicht immer besser?«
»Stimmt.«
Olinka blies dem Mann ihren säuerlichen Atem ins Gesicht. »Ich sage dir, mein Lieber, dass ich immer besser werde. Ich sauge mir die neue Kraft ein, ich liebe sie, ich erwarte sie, ich freue mich über sie, und ich werde es allen zeigen. Heute waren es der Fuchs und die Ratten, bald schon werde ich mir die Menschen holen.« Sie löste die rechte Hand von der Schulter und tippte Oleg mit der Zeigefingerspitze einige Male gegen die Brust. »Wenn es soweit ist, wirst du den Ofen anheizen. Versprichst du mir das?«
Oleg schluckte zwar, weil er genau wusste, was dahintersteckte, doch er nickte.
Sie tätschelte seine Wange. Der Handschuhstoff fühlte sich kalt an.
»Brav, mein Lieber, sehr brav bist du. Das mag ich so an dir. Du lässt dich eben nicht aus der Ruhe bringen.«
Zwar schossen zahlreiche Gedanken durch den Kopf des Mannes, er schaffte es jedoch nicht, sie zu ordnen. Er sagte nur: »Ich weiß nicht, ob Menschen kommen werden.«
»Was weißt du nicht?« Sie schrie die Worte. »Das ist doch Wahnsinn. Wie kannst du so etwas sagen? Es ist bald Weihnachten, das Fest der gegenseitigen Erpressung. Du glaubst gar nicht, wie schnell sie hier sein werden. Die Bedingungen sind ideal. Es hat geschneit, und davon ist auch das Grenzgebiet zwischen Deutschland und der Tschechei nicht verschont geblieben. Der Schnee ist für Langlauf ideal, und die nächsten Ferienhäuser sind nicht weit entfernt. Wir waren doch öfter in der kleinen Siedlung hinter dem Wald. Erinnerst du dich?«
Oleg nickte. »Da war sie leer.«
»Aber jetzt nicht. Die ersten Gäste sind bereits eingetroffen. Morgen und übermorgen werden sich die Häuser füllen. Da kannst du die Leute dann sehen, wenn sie ihre Skier umschnallen und zu einem Langlauf starten. Das alles wirst du erleben, mein Guter.« Sie stieß ihn leicht mit der Faust an, und Oleg wankte zurück, da er sein Gewicht auf das falsche Bein verlagert hatte.
»Was soll ich tun?«
Olinka lachte. »Endlich spurst du«, flüsterte sie. »Es ist ganz einfach, du wirst sie beobachten. Du wirst dich in ihre Nähe begeben, um ihre Häuser schleichen. Du wirst in die Zimmer hineinschauen und schon die Opfer aussuchen. Danach werden wir sie uns gemeinsam holen. Vielleicht kommen sie auch freiwillig. Wie oft verlaufen sich die Leute, und manchmal ist der Wald sehr, sehr dicht. Eines aber ist sicher. Im Ofen wird das Feuer immer brennen, und ich freue mich schon darauf, wenn sich der Spieß dreht. Hänsel und Gretel, denke daran, aber denke auch immer an die böse Hexe!« Sie beugte ihren Kopf und fing an zu lachen. Es war ein schrilles, widerliches Gelächter, das sie hoch gegen den dunklen Himmel schickte.
Oleg fror noch mehr.
Das lag aber nicht nur an der Kälte…
***
»Es hat keinen Sinn, dass du hier in London bleibst, John. Du musst mal raus aus der Stadt.«
»Ja, Urlaub machen.«
»Weg für einige Tage, auch über Weihnachten. Nicht mehr an das erinnert werden, was hinter dir liegt.«
»Eine gute Therapie.«
»Balsam für die Seele.«
»Und wenn du dann wieder zurückkehrst, sieht alles ganz anders aus. Dann kannst du wieder mit frischen Kräften starten, aber eise dich, um Himmels willen, nicht hier in London fest. Das bringt nichts. Nur Erinnerungen.«
So redeten die beiden Conolly von verschiedenen Seiten auf mich ein. Ich kam nicht dazu, mich akustisch zu wehren, denn dieses Gespräch erschien mir, als hätten sie sich abgesprochen.
Dabei hatten sie im Prinzip Recht. Ich brauchte mal Ruhe und Entspannung. Kein Mensch ist eine Maschine, kein Mensch steckt Niederlagen und Enttäuschungen einfach so weg.
Wenn ich darüber nachdachte, dann war es auch ein Jahr der Niederlagen und Enttäuschungen gewesen. Ich wollte nicht allein an Jessica Long und die Kreaturen der Finsternis denken, das lag für mich weit zurück, obwohl es noch nicht so lange her war, nein, es ging auch um den letzten Fall, der mich den Dunklen Gral gekostet hatte. Durch seinen Verlust aber hatte ich Suko und auch den Abbé Bloch retten können, wobei der Abbé sein Augenlicht wiederbekommen hatte.
Avalon, dachte ich – verfluchtes Avalon!
Ich hätte mir nie vorgestellt,
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