0816 - Die Schattenfrau
die Haare waren blutverschmiert. Als hätte eine gewisse Person diesen jungen Mann kurzerhand zu Tode gekratzt. Darauf deuteten auch die tiefen Wunden in der Haut hin. Es war einfach ein Bild des Schreckens.
Selbst in die weit offenstehenden, ausdruckslosen Augen war das Blut geflossen. In Höhe der Kehle hatte es bereits Klumpen gebildet.
Tandy kaute, ohne zu essen. Er schluckte, ohne etwas zerkaut zu haben. Er war nicht mehr er selbst. Er kam sich vor wie ein Mensch, der alles nur im Film erlebte und neben sich stand. Dieser grauenhafte Anblick hatte ihn mit der elementaren Wucht eines Keulenschlags getroffen. Mit einer Leiche in seinem Bungalow hatte er nicht gerechnet, eher mit einem Angriff auf den Mieter selbst.
Da war die Stimme gewesen, die vonseinem Blut gesprochen hatte. Auch an der Decke hatte er für einen Moment einen Schatten gesehen. Das alles kam ihm wieder in den Sinn. Er dachte an die Frau, die ihr Versprechen wahrgemacht hatte.
Wer mit Zeo schlief oder sich überhaupt mit ihr einließ, der war dem Tod geweiht.
Aber warum dieser junge Mann? Was hatte diese Person mit seinem Tod bezweckt? Tandy wusste es nicht. Sein sonst so normal arbeitender Verstand war beiseite geräumt worden. Bei ihm schwammen Wirklichkeit und Vorstellungsvermögen ineinander und bildeten ein Mosaik, in dem die Farbe des Bluts überwog.
Er zog sich zurück.
Seine Schritte schleiften über den glatten Mosaikfußboden.
Für ihn hatte das Betttuch die Farbe eines Leichenhemds angenommen. Er hasste plötzlich dieses helle Weiß und hätte es am liebsten mit dunklem Schlamm beschmutzt.
Wohin mit der Leiche? Was tun? Wie sollte er den offiziellen Stellen seinen Fund erklären?
Es gab keine Lösung für ihn. In Tandys Kopf herrschte ein völliges Durcheinander. Seine Bewegungen waren mehr taumelnd als gehend. Immer wieder drehte er sich in verschiedene Richtungen, sah dabei auch gegen das Fenster, dessen Gardinen nur zur Hälfte vorgezogen waren, und er entdeckte die Gestalt.
Seine Hand legte sich auf die Waffe. Der Mörder, der Killer…
Die Gestalt hob den rechten Arm.
Eine beruhigende Geste, die ihre Wirkung auch nicht verfehlte.
Schnaufend atmete Clifford Tandy aus, seine rechte Hand löste sich vom Griff der Waffe. Der Mann draußen vor dem Fenster deutete in Richtung Eingang. Clifford nickte zum Zeichen, dass er begriffen hatte. Mit schnellen Schritten erreichte er sein Ziel und öffnete die Tür.
Warme und seidenweiche Luft wehte ihm entgegen. Das Zirpen der Grillen und des anderen Getiers kam ihm unnatürlich laut vor.
Weit im Hintergrund hörte er ein Heulen, als würde eine Hyäne den Tod des Mannes betrauern.
Er nickte dem Mann zu. »Komm rein, John. Endlich…«
***
Ich betrat das flache Haus und schaute zu, wie Clifford Tandy die Tür schloss. In diesem Augenblick wurde mir mit aller Deutlichkeit klar, dass etwas geschehen sein musste, denn so hatte ich meinen alten Schulkollegen noch nicht erlebt.
Er war fertig, er war nur mehr ein Nervenbündel. In ihm steckte nichts mehr von der Energie, die er noch vor drei Tagen gezeigt hatte, als er mich bat, ihn nach Ägypten zu begleiten, um dort einem Fall nachzugehen, der mehr als mysteriös war.
Eigentlich hatte ich zu Cliff keinen Kontakt mehr gehabt. Wir hatten uns über Jahre hinweg nicht gesehen. Ich wusste nur, dass er sich der Archäologie verschrieben hatte und zu einem anerkannten Fachmann geworden war.
Clifford Tandy gehörte zu den Leuten, die als Archäologen nicht in irgendwelchen Büros versauerten, wo sie alte Tonscherben zu Krügen oder Schalen zusammensetzten – er war ein Mann der Tat.
Er war immer unterwegs, er schrieb Berichte, er drehte Filme, die er dannan Fernsehsender verkaufte, und so hatte ich ihn eigentlich nie aus dem Sinn verloren, wenn auch aus den Augen.
Tandy war ein hoch gewachsener Mann mit dichten, grauen Haaren. Seine gebräunte Haut bewies, dass er sich oft in der freien Natur aufhielt. Er war ein Mann, den man sich nicht auf irgendwelchen Partys mit einem Cocktailglas in der Hand vorstellen konnte.
Dafür eher auf einem Schiff oder auf einem Berg und natürlich in den Gängen irgendwelcher alter Gräber. An Tandy war alles kräftig und männlich. Die Nase, das Kinn, der Mund, auch die Hände. Wer sie zum ersten Mal sah, konnte sich kaum vorstellen, wie sanft dieser Mann auch mit den kleinsten Fundstücken aus der Vergangenheit umgehen konnte.
Er war ein Kerl, der allem trotzte. Der sich bewusst in den Sturm
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