0817 - Gefahr aus dem Drachenland
Der Lockruf
Der Wald lebte.
Feuchter Dunst stieg zwischen den Baumriesen auf und verwandelte ihn in eine Sauna. Nur an einigen Stellen fiel das Sonnenlicht vorhangartig durch das dichte Blätterdach in vierzig Metern Höhe und gaukelte einem Betrachter inmitten der Schattenzonen Bewegungen von Feen, Elfen und anderen Wesen des Waldes vor, die nur in seiner Fantasie existierten. Umherwabernde Dunstfetzen, die flüchtige, bizarre Gestalten schufen, die bereits Sekunden später wieder verweht waren, verstärkten diesen Eindruck Wo das Licht auftraf, dampfte der Untergrund. Schwärme von Vögeln hockten in den Baumkronen und veranstalteten ein vielstimmiges Konzert.
Manolo Esteban kam fast täglich in den Wald, um Beute zu machen. Lebende Beute allerdings, denn der schwarzhaarige Mann Mitte der Dreißig tötete keine Tiere, sondern fing sie lebendig. Zu diesem Zweck trug er einen Holzkäfig bei sich, um seine Beute zu verstauen. Dazu eine großkalibrige Büchse für den Fall der Fälle. Bisher hatte er sie noch nie gebraucht, und er glaubte auch nicht, dass es jemals dazu kommen würde. Er sorgte dafür, dass Menschen, die weit entfernt lebten, ebenfalls in den Genuss kamen, die seltenen Tiere zu sehen. Wenn auch nicht in der freien Wildbahn, aus der sie stammten. Aber besser in Käfigen als überhaupt nicht, sagte sich Manolo.
Er liebte die Geräusche, die aus allen Richtungen an seine Ohren drangen. Sie waren allgegenwärtig und verstummten niemals. Nicht einmal nachts, auch wenn sie nach Einbruch der Dämmerung einen anderen Klang hatten. Allein auf Grund des Sonnenstands am Himmel wusste er vorauszusagen, wann eine Tierart verstummte und ihr Lärmen durch die einer anderen Art abgelöst wurde.
Bereits als kleiner Junge war er aus dem Dorf, das einige Kilometer weiter südlich am Fuß der steil aufragenden Berge lag, in den Wald gekommen. Damals hatten ihn Neugier und kindlicher Spieltrieb hergeführt, heute war es die Sorge um das Wohlergehen seiner Tochter Juanita.
In der zwanzig Kilometer entfernten Stadt zahlte man gut für kleine Reptilien, die nach Europa und in die Vereinigten Staaten exportiert wurden. Für den kräftigen jungen Mann war gleichgültig, was mit ihnen geschah, nachdem er sie abgeliefert hatte. Für ihn war nur wichtig, dass er mit dem Geld, das er dafür erhielt, Juanita ernähren konnte.
Im Dorf war nur schwer eine andere Arbeit zu bekommen, und in die große Stadt wollte er mit seiner Tochter nicht ziehen. Sie sollte dort aufwachsen, wo schon die Großeltern und Urgroßeltern gelebt hatten.
Früher war die Jagd auf die wieselflinken Reptilien viel einfacher gewesen. Es hatte so viele von ihnen gegeben, dass man beinahe nur danach greifen musste. Doch die Zeiten hatten sich geändert. An vielen Stellen wurde der Urwald abgeholzt, und die in ihm lebenden Tiere zogen sich immer weiter zurück. So war auch Manolo gezwungen, immer tiefer in den Wald vorzudringen.
»Ich habe Durst, Padre«, beklagte sich Juanita. So wie an diesem Tag begleitete sie ihn häufig. »Wir sind schon so lange unterwegs, und ich habe noch nichts getrunken.«
Trotz des frühen Vormittags war es bereits unerträglich heiß. Die Luftfeuchtigkeit drückte an diesem Tag ganz besonders. Manolo hielt inne, setzte den Holzkäfig ab, nahm die mitgeführte Wasserflasche vom Gürtel und reichte sie seiner Tochter.
Die Vierzehnjährige nahm einen großen Schluck und spie ihn umgehend wieder aus. »Das Wasser ist so warm wie die Luft«, beschwerte sie sich.
Manolo trank selbst et was und musste ihr zustimmen. Nach zwei Stunden war das Wasser bereits warm und schmeckte abgestanden. Nur gab es kein anderes.
»Es dauert noch eine Weile, bis wir den Gebirgsbach erreichen«, vertröstete er Juanita. Um so größer würde die Entschädigung durch das klare, kalte Wasser aus den Bergen sein. »Komm schon. Je weniger Pause wir machen, desto eher sind wir da.«
Als Mariolo seinen Käfig aufnahm und gemeinsam mit seiner Tochter den Weg fortsetzte, hatte sich etwas verändert. Nachdenklich schaute er sich um. Er kannte dieses Gebiet, in dem die höchsten Urwaldriesen wie graue und grüne Finger bis zu achtzig Meter in den Himmel ragten. Alles sah aus wie sonst auch. Spielten ihm seine Sinne einen Streich?
Er brauchte eine Weile, bis er begriff, was ihn so irritierte. Übergangslos war es ruhig geworden. Wie auf ein geheimes Zeichen hin, so als hätte jemand einen Schalter umgelegt und das Schreien und Keifen abgeschaltet, waren
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