082 - Die weisse Frau
streiften und Kaninchen jagten. Der Verkehr auf der nahen Bundesstraße stockte, als sei auch er von den geheimnisvollen Vorgängen zwischen den alten Mauern betroffen.
Weil die Nächte warm waren, schlief Anne Bloom bei offenem Fenster. Ihr Zimmer lag im dritten Stock des Westflügels. Sie hatte keinen Grund, zu fürchten, irgend jemand könnte bei ihr eindringen.
Aber in dieser Nacht strich etwas eisig über sie hinweg und riß sie aus dem Schlaf. In der Dunkelheit konnte sie nichts sehen, aber sie spürte die Anwesenheit eines anderen Wesens. Sie fror. Ihr Herz hämmerte wild. Sie wollte die Hand zum Lichtschalter ausstrecken, aber die Angst vor der unsichtbaren Gefahr lähmte sie.
Sie lag auf der Seite und hatte die Decke bis hoch unter das Kinn gezogen. Das Unbekannte war hinter ihr. Sie fühlte es deutlich, aber sie wagte zunächst nicht, sich umzudrehen und dem Schrecken ins Augen zu blicken.
Dann bemerkte sie den eigenartigen Schimmer in der Dunkelheit; es war ein kaltes, unwirkliches Licht.
Mit unendlicher Anstrengung drehte sie den Kopf herum. Sie zitterte am ganzen Körper, weil sie sich wehrlos fühlte. Dann vernahm sie ein leises Murmeln, das Wispern einer körperlosen Stimme in unbestimmbarer Entfernung.
Sie richtete sich etwas auf, und sah die Gestalt einer in weiße Kleider gehüllten Frau vor sich. Die Weiße näherte sich ihr mit erhobenen Armen und streckte die dürren Finger nach ihr aus, als wollte sie sie würgen.
Die junge Lehrerin schrie entsetzt auf. Sie wich vor dem unheimlichen Wesen und der eisigen Kälte zurück. Die Angst trieb sie aus dem Bett. Voller Panik duckte sie sich unter den Armen hindurch und floh auf den Flur hinaus. Sie wollte um Hilfe schreien, aber die Stimme versagte ihr. Als sie über die Schulter zurückblickte, sah sie, daß die weiße Frau ihr folgte. Ihre Augen glühten kalt und bedrohlich.
Die Lehrerin verfing sich mit einem Fuß im Saum des Nachthemdes, stolperte und stürzte zu Boden.
Sie rutschte über die Stufen bis zum ersten Absatz hinunter. Anne Bloom spürte die Prellungen nicht, die sie davongetragen hatte; die Furcht trieb sie weiter. Sie rannte die Treppen hinunter, doch ihr Vorsprung vor der weißen Gestalt schmolz zusammen. Als sie die Tür zu dem Zimmer ihrer Lieblingsschülerin Gerlinde Schultheiß erreicht hatte, waren die knöchernen Hände bis auf wenige Zentimeter an ihren Hals herangekommen.
Anne riß die Tür auf und lief in das Zimmer.
„Gerlinde!“ rief sie keuchend.
Die Tür fiel hinter ihr zu. Sie drehte sich um und wich bis zum Bett der Primanerin zurück, die Blicke starr auf die Tür gerichtet. Die weiße Gestalt war ihr nicht gefolgt. „Gerlinde, so wach doch auf!“ Sie beugte sich über das Bett und sah erst jetzt, daß es’ leer war. Das Bett war noch warm. Die Schülerin konnte es erst vor wenigen Sekunden oder Minuten verlassen haben.
Die wispernde Stimme drang durch die Tür, die sich plötzlich in Nichts aufzulösen schien. Deutlich sah Anne, wie die fluoreszierende Gestalt durch das Holz kam. Sie schien kein Hindernis zu kennen.
Die Lehrerin saß in der Falle. Sie konnte nicht mehr ausweichen. Der Weg durch die Tür war ihr versperrt, und durch das Fenster konnte sie nicht fliehen; es lag viel zu hoch. Dennoch bot es ihr den einzigen Ausweg. Sie glaubte, die dürren Hände bereits um ihren Hals zu spüren; sie schienen aus purem Eis zu sein.
„Sei still“, flüsterte die weiße Frau mit tonloser Stimme. „Ich muß dich töten. Sei still! Es geht so schnell.“ Die Lehrerin schrie gellend auf.
Die Angst ließ sie jede Vernunft vergessen. Sie wollte ans Fenster, rutschte aber auf dem glatten Boden aus, prallte mit dem Hinterkopf gegen den Nachttisch und verlor auf der Stelle das Bewußtsein.
Als sie wieder zu sich kam, war es hell im Zimmer Gerlindes. Sie lag im Bett. Dr. Schwab beugte sich über sie und kühlte ihren Kopf mit einem nassen Lappen.
„Was ist denn passiert, verehrte Kollegin?“ fragte er.
Sie richtete sich ruckartig auf und blickte sich im Zimmer um. Alles sah ganz normal aus. Von der weißen Frau war nichts mehr zu sehen.
„Sie haben um Hilfe gerufen“, erinnerte er sie.
Anne ließ sich ins Bett zurücksinken. Sie zögerte, ihm zu sagen, was passiert war, weil sie selbst nicht genau wußte, ob sie alles wirklich erlebt hatte; aber dann wurde ihr bewußt, daß sie nicht in ihrem eigenen Bett, sondern in dem von Gerlinde Schultheiß lag.
„Oh mein Kopf!“ stöhnte sie und
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