082 - Die weisse Frau
Wahlgahn. „Welche ist die richtige?“
„Ich habe die weiße Frau gesehen. Das ist die einzig richtige Version.“
Der Kommissar kratzte sich am Kinn, ging einige Schritte zum Fenster und drehte sich dann um.
„Fräulein Bloom“, sagte er mit schneidend scharfer Stimme. „wollen Sie uns nicht endlich die Wahrheit sagen?“
Sie schwieg.
Er wandte sich an die anderen und bat: „Lassen Sie uns, bitte, allein!“
Anne setzte sich auf einen Stuhl. Man glaubte ihr nicht. Der Kommissar verdächtigte sie sogar, am Tod Gerlindes schuld zu sein. Vielleicht nahm er auch noch an, sie hätte sie getötet?
„Es wird Sie interessieren, daß die Leiche des Mädchens keine Anzeichen von Gewalt aufweist. Ich bin davon überzeugt, daß die Untersuchung im gerichtsmedizinischen Institut ergeben wird, daß sie erstickt ist. Aber, Fräulein Bloom, was hat das Mädchen dazu veranlaßt, in die Truhe zu steigen? Wie ich gehört habe, war Gerlinde eine überdurchschnittlich gute Schülerin. Sie wäre nicht freiwillig in die Kiste gestiegen. Was war also der Grund dafür, daß sie es doch getan hat?“
„Die weiße Frau.“
„War es nicht vielmehr so, daß Gerlinde in der Nacht zu Ihnen kommen wollte? Wurden Sie beide überrascht, so daß das Mädchen sich in der Kiste verstecken mußte, damit niemand etwas merkt?“
„Auf derartige Fragen antworte ich nicht. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich vor der Spukgestalt geflohen bin. Das gleiche hat Gerlinde vermutlich auch getan.“
„Sie müssen doch zugeben, daß diese Darstellung ziemlich unglaubwürdig ist.“
„Dafür kann ich nichts.“ Anne kaute nervös an ihren Lippen und berichtete dann: „Herr Kommissar, ich bin eben im Park gewesen. Dort bin ich von einem alten Mann belästigt worden. Er wußte bereits, daß Gerlinde tot ist, obwohl niemand außer Frau von Stöckingen, Dr. Schwab und mir etwas davon wissen konnte.“
„Beschreiben Sie den Mann!“
Anne schilderte den Alten so gut sie konnte.
„Ich möchte später noch einmal mit Ihnen sprechen“, sagte der Kommissar. „Sie können jetzt gehen.“
Sie verließ den Arbeitsraum. Draußen warteten die anderen auf sie. Der Assessor sprach mit Dr. Schwab. Sie ging zu ihm und erzählte ihm, was am Fluß geschehen war.
„Das ist der alte Keschmer“, sagte Frau von Stöckingen, die ihrer Schilderung gefolgt war. „Der Alte ist schwachsinnig. Auf sein Geschwätz können wir nichts geben.“
„Aber woher wußte er, was hier los ist?“ fragte Anne hitzig.
„Er wußte es nicht“, entgegnete die Schulleiterin abfällig. „Er redet ständig solchen Unsinn. Seit Jahren fragt er jeden, den er trifft, ob nicht schon wieder einmal jemand umgebracht worden sei.“
„Das Gerede des Mannes muß aber doch eine Ursache haben“, meinte auch Dr. Schwab. „Selbst Schwachsinnige schwätzen nicht einfach so daher. Irgend etwas muß irgendwann den Anstoß zu diesem Gerede gegeben haben.“
„Ich pflichte Ihnen bei“, sagte Assessor Daub. „Hat es früher schon einmal einen Todesfall auf dem Schloß gegeben?“
„Natürlich, Sie Intelligenzbolzen“, bemerkte Dr. Lohmann sarkastisch. „Hier gibt es seit Jahrhunderten immer wieder Todesfälle. Die Alten sterben eines natürlichen Todes, während neue Babys geboren werden.“
„Sie wissen genau, was ich meine.“
„Ihre Worte lassen die nötige Präzision vermissen, mein Lieber.“
„Mit Ihnen geht die Paukerleidenschaft durch, Herr Kollege“, sagte Dr. Schwab. „Bringen Sie doch den armen Assessor nicht durcheinander.“
„Mir sind ähnliche Vorkommnisse nicht bekannt“, warf Frau von Stöckingen mit sichtlichem Widerwillen ein. „Seit ich dieses Pensionat leite, ist niemand verunglückt – und schon gar nicht tödlich.“
Kommissar Wahlgahn kam aus dem Zimmer der Schulleiterin.
„Ich möchte die Schülerinnen aus der Klasse der Toten sprechen“, erklärte er. „Wer hat die Zimmer neben ihrem Zimmer?“
„Auf der linken Seite wohnt Harriett Mahler, auf der anderen Seite Petra König“, sagte Anne Bloom. „Die drei sind – waren Freundinnen.“
Frau von Stöckingen trat an die Englischlehrerin heran und bat sie mit gedämpfter Stimme: „Fräulein Bloom, könnte ich Sie einen Augenblick unter vier Augen …“
Anne Bloom nickte und folgte der Schulleiterin zu deren Privaträumen. Frau von Stöckingen bot ihr einen Sherry an, den sie dankend annahm. Die beiden Damen setzten sich.
„Ich habe Sie ein bißchen zu heftig angefahren, Anne“,
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