0830 - Der Tod des Unsterblichen
»Wieso… wieso ging es dir besser als mir?«
»Das Langka«, antwortete Andrew schwach. »Es schützte mich, und als ich dich berührte, weitete es diesen Schutz auf dich aus.« Mit diesen Worten zog er den geheimnisvollen Gegenstand hervor, den er von Merlin erhalten hatte, und wog ihn nachdenklich in der Hand. Er war etwa zehn Zentimeter lang und ähnelte einem Spazierstock mit völlig glatter Oberfläche, die silbrig blitzte.
»Es… es ist metallen«, murmelte Zamorra. Seine Gedanken klärten sich rasch.
Andrew Millings nickte. »Das dürfte nicht sein, ich weiß. Es müsste hölzern wirken.« Das Langka änderte seine Oberflächenbeschaffenheit je nach Mondphase. »Und das war es auch, als wir die Erde verließen.«
»Es reagiert also auf den Dimensionswechsel.«
Millings legte den magischen Gegenstand in Zamorras Hände. »In mehr als einer Hinsicht«, stimmte er zu.
Als Zamorra das Langka berührte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Seine Umgebung veränderte sich. Das Grau des Himmels wich undurchdringlicher Schwärze. Und darin wand sich etwas…
»Das Langka zeigt demjenigen, der es berührt, eine andere Ebene der Realität«, kommentierte Andrew. »Wir blicken sozusagen hinter die Kulissen der Hölle der Unsterblichen…«
***
Die dunklen Straßen von Paris zogen unter Chefinspektor Andre Gasser hinweg. Er hatte seine Wohnung beinahe fluchtartig verlassen. Nackte Panik saß ihm im Nacken. Beinahe hätte er seine Frau gebissen, um ihr Blut zu trinken!
Im letzten Moment hatte er sich mit Gewalt davon abhalten können, und das auch nur deswegen, weil er den telepathischen Ruf vernommen hatte, der ihn ablenkte. Den Ruf seiner Herrin und seiner Vampirgeschwister, der ihn quer durch die halbe Stadt trieb.
Gasser hetzte immer weiter, obwohl er nach menschlichem Ermessen längst hätte zusammenbrechen müssen. Er rannte schneller, als es ihm möglich sein dürfte. Und das seit fast einer Stunde! Er eilte durch Nebenstraßen und kleine Gässchen, die er nie zuvor gesehen hatte, und doch kam er seinem Ziel unablässig näher. Er kannte den Weg, den er noch nie gegangen war, genau - seine Geschwister wiesen ihm den Weg.
Er war genau wie sie eine Kreatur Angéliques, der Diener einer Dämonin, der nur existierte, weil es ihr gefiel…
Nein!, schrie es in ihm. Er war anders! Die anderen waren Vampire, und er war noch immer Mensch.
War er das?
War er das wirklich ?
Ja, antwortete etwas in ihm, der Teil, der bislang tatsächlich menschlich geblieben war. Das kleine bisschen, das noch nicht von der dämonischen Saat ergriffen worden war.
Und doch rannte er immer weiter, getrieben von dem anderen Teil, demjenigen, dem sein Körper gehorchte und Übermenschliches vollbringen ließ.
Vor einem alten, baufälligen Haus blieb Andre Gasser stehen. Er wusste nicht, wo er sich befand. Er legte die Hand auf die Klinke der Eingangstür, und er war nicht überrascht, als die Tür daraufhin nach innen schwang.
Er betrat das Haus und schloss die Tür hinter sich. Der Flur, in dem er stand, war fensterlos. Nahezu absolute Dunkelheit umgab ihn, nur unterbrochen durch die schmale Ritze aus düsterem Zwielicht der letzten Abendsonne, die durch die nicht fugendicht schließende Tür drang. Zielstrebig ging Gasser weiter, denn er konnte trotzdem sehen…
Er stieg eine Treppe hinunter. Unten herrschte für menschliche Augen undurchdringliche Finsternis - er jedoch erkannte alles, und er wunderte sich nicht einmal darüber. »Ich bin hier«, rief er in die Schwärze hinein.
Wispernde Stimmen antworteten ihm. Er konnte zunächst kein Wort verstehen, doch im nächsten Moment erkannte er, dass er ebenso wenig auf seine Ohren angewiesen war, um sie zu hören, wie auf seine menschlichen Augen, um sie zu sehen. Er vernahm die Stimmen in seinem Kopf.
»Willkommen, Bruder.«
»Ich bin hier, weil unsere Herrin uns rief«, stellte der Chefinspektor klar.
»Sie rief uns«, wiederholten seine Brüder stumpfsinnig.
»Wir müssen ihr helfen. Aber wie?«
»Sie befindet sich nicht mehr in dieser Welt.«
»Wie können wir zu ihr gelangen?«
»Wir wissen es nicht.«
»Wie sollen wir ihr dann helfen?«
»Wir wissen es nicht…«
***
In den Tentakeln gefangen glaubte Angélique einen Augenblick lang, ihr Ende sei gekommen. Sie starrte der Bestie, die sie angegriffen hatte, in die glühenden Augen. Der Druck um ihren Oberkörper nahm immer weiter zu - für ein sterbliches Wesen wäre der Schmerz wohl kaum zu ertragen
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