0840 - Siegel der Rache
schloss die Augen: »Wenn schon alle anderen nicht, dann doch wenigstens du…«
Aber sie würde ihre ablehnende Haltung wohl nie aufgeben, würde nie aufhören, zu warnen. »Du bist süchtig, Zamorra! Süchtig! Süchtig! SÜCHTIG!«
Aber das war er doch nicht! Er tat doch nur, was er tun musste.
Professor Zamorra schrak aus diesen Gedanken hoch.
Ein Blick zur Uhr brachte ihn aus der Fassung. Zwei Stunden - zwei volle Stunden waren vergangen, seit er den Raum betreten hatte. Doch was war in dieser Zeit passiert? Er konnte sich nicht daran erinnern. Zamorra hob seine Hände einige Zentimeter an. Eine simple Bewegung, doch sie kostete ihn enorm viel Energie und Willenskraft. Schweiß trat auf seine Stirn. Die Hände… als er sich vor 120 Minuten hier auf diesen Stuhl gesetzt hatte, waren sie wie von selbst auf den Einband des Siegelbuches gewandert. Und dann?
Zamorra konzentrierte sich. Nun, er hatte über die vergangenen Tage nachgedacht, hatte Lösungen für den Wust der offen stehenden Problemfälle ausgearbeitet, über Korrekturen vorhandener Datensätze gegrübelt… hatte…
Mit einem Ruck stand der Franzose auf, ging zum Fenster. Ein paar tiefe Atemzüge später hatte er den Mut, es sich einzugestehen. All das hatte er vielleicht tun wollen. Möglich, doch die Wahrheit sah anders aus.
Nichts von alledem war geschehen.
Die Handflächen auf dem Buch - wie ein Betender vor dem Schrein einer heidnischen Gottheit - so hatte er die vergangenen zwei Stunden verbracht. Nicht Herr seiner Sinne, seines Körpers… seiner Seele?
Zamorra schloss die Augen. Was, wenn Nicole doch mit all ihren Befürchtungen richtig lag? Was, wenn nicht er es war, der aus reinem Forscherdrang das Geheimnis der Siegel ergründete, sondern die Siegel ihn lenkten? Wenn sie ihn tatsächlich bereits zu einem Teil unter Kontrolle hatten?
Er fühlte sich plötzlich nur noch müde und unsicher. Ein Zustand, der ihm echte Angst vermittelte, denn er passte nicht zum Leben des Parapsychologen. In keinster Weise!
Ein kaum wahrnehmbarer Laut drang an Zamorras Ohren, der jedoch von Sekunde zu Sekunde lauter wurde. Das war ein Klang, den man hier nur äußerst selten zu hören bekam: Sirenen. Zamorra wandte sich wieder dem Fenster zu. Polizei? Oder die Feuerwehr? Im Dorf, das unterhalb des Château Montagne lag, konnte man solche Einsätze in den vergangenen Jahren tatsächlich an einer Hand abzählen. So aufregend und für einen normalen Bürger unglaublich das Leben des Professors und seiner Gefährtin auch sein mochte, so ruhig lebten sie - wenn sie es denn einmal schafften, länger als zwei oder drei Tage im Château zu verweilen.
Der Klang der Sirene konnte tatsächlich Tote aufwecken… und er kam immer näher, nahm an Intensität dadurch enorm zu. Niemand mochte dieses Geräusch, denn es kündigte Leid und Not an, die oft auch die besten Feuerwehrmänner nicht verhindern konnten.
Erstaunt lehnte sich Zamorra ein wenig aus dem Fenster nach vorn. Da war eine zweite Sirene… und wohl noch eine dritte. Zamorra schüttelte nun endgültig Müdigkeit und Verunsicherung von sich ab. Mindestens drei Löschzüge? Da musste erheblich mehr als eine alte Scheune in Flammen stehen.
Natürlich hätte Zamorra sich zurücklehnen und nun endlich doch noch mit der geplanten Arbeit beginnen können, aber das Dorf und seine Bewohner waren ihm nicht gleichgültig. Wahrhaftig nicht.
Er zuckte vom Fenster weg, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. Nicole stand in der Öffnung, und ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Zamorra, los, komm mit. Es brennt. Der ›Teufel‹ brennt!«
***
»Wenn du uns umbringen willst, dann versichere ich dir, dass du auf dem allerbesten Weg dazu bist. Glückwunsch -nur weiter so.«
Nicole Duval pflegte selbst einen äußerst rasanten Stil zu fahren; wenn es denn sein musste, auch einmal mehr als das, was noch erträglich genannt werden konnte. Doch Zamorras Kamikaze-Fahrt hinunter ins Dorf war selbst ihr eine Spur zu heftig.
»Wer zum Teufel will…«
Nicole ergänzte den Spruch für Zamorra. »Der muss höllisch schnell fahren. Okay, der Friedhof liegt östlich von hier - ich meine nur so.«
»Kannst du dir den alten Mostache vorstellen, der zusehen muss, wie seine geliebte Kneipe in Flammen aufgeht?« Zamorra ließ den Blick hoch konzentriert auf der Straße ruhen. Er wusste schließlich selbst, dass er hier wie ein Selbstmordkandidat entlangpreschte. Im Geiste dankte er einem ganz bestimmten Volksstamm aus
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