0842 - Der Sternensammler
Das Licht des Mondes schuf visuelle Lügen.
Harte Umrisse wurden zu sanften Ahnungen. Wenn sie in diesem Glanz badeten, verloren sie ihre scharfe Realität, ihre wahre Bestimmung.
Märchenlicht für Träumer und Gaukler.
Doch die Strahlen des Erdtrabanten konnten auch extrem abgrenzen, scharf zeichnen…
Der Balkon ragte weit in die klare Nacht hinaus. Seine steinerne Brüstung bildete die Grenze zum freien Fall. Die Statue, die hoch aufragend in seiner Mitte das Mondlicht einzufangen schien, mochte aus Basalt gemeißelt sein.
Nur wenn der Wind auffrischte, hätte eine aufmerksamer Beobachter erahnen können, dass durchaus Leben in diesem Kunstwerk vorhanden war, denn dann wehte die Haarpracht der Gestalt, raschelte der bodenlange Umhang, der die Farbe der Nacht trug.
Leben? Sicher in einer Form, die einem uneingeweihten Menschen nicht vorstellbar sein konnte. Der Vampir war hager, ausgezehrt. Sein Blick bohrte sich tief in den weit entfernt gelegenen Wald, den er noch in dieser Stunde besuchen würde.
Dalius Laertes fühlte den Durst bitter in sich wühlen.
Durst nach warmem Blut. Menschenblut… natürlich. Doch es war eine sehr lange Zeit vergangen, als er diesen unnachahmlichen Genuss zum letzten Mal auf seiner Zunge gespürt hatte. Blut, ja, natürlich. Er war ein Vampir, daran gab es nun einmal keinen Zweifel. Doch es war ihm gelungen, den großen Kampf gegen sich selbst zu gewinnen.
Seine Nahrung bestand aus Tierblut - ausschließlich.
Laertes war klar, dass er dies von den Mitgliedern seines Volkes nicht verlangen konnte. Wahrscheinlich wären die allermeisten von ihnen elendig verdurstet, wenn man sie dazu zwingen würde. Vor vielen Jahren hatte Laertes ein Projekt geleitet, dessen Ergebnis den Nährgehalt von menschlichem Blut drastisch erhöhen sollte. Es war niemals zu einem solchen Ergebnis gekommen, denn Sarkana, der Vampirdämon, hatte alle daran Beteiligten vernichtet. Fast alle.
Dalius Laertes war eine Ausnahme, und er wusste das auch sehr wohl richtig einzuschätzen. Es mochte viele Gründe dafür geben, dass er menschlichem Blut abgeschworen hatte.
Einer war sicherlich der, dass er nicht von dieser Welt stammte. Der Gedanke daran ließ seine so bewegungslose Gestalt für einen kurzen Moment schwanken. Laertes Ursprung war die Welt Uskugen. Wie er letztendlich zur Erde gelangt war, wo Sarkana ihn höchstpersönlich zu einem Vampir gemacht hatte, wusste er nach wie vor nicht. Der schwarze Fleck in seiner Vergangenheit war noch immer groß in seiner Fläche.
Was wusste er schon wirklich über sich? Dalius Laertes war auf Uskugen ein hoch dekorierter Mann der Wissenschaft gewesen, ein anerkanntes Mitglied des Rates dieser Welt. Mehr noch -er war ein berühmter Sportler, geliebt und umworben von den Massen. [1]
Er war Vater von zwei Kindern, Ehemann und Lebenspartner einer wunderschönen Frau, die er über alles geliebt hatte. Dann war der Tag gekommen, an dem Dalius Laertes sich auf Uskugen mit Hass und blindem Neid konfrontiert sah. Und es war zu einem unheilvollen Showdown gekommen, zwischen Laertes und einem Laertes-Klon, der in Perfektion und Authentizität sicher so zuvor nie existiert haben mochte.
Wer hatte gesiegt? Laertes wusste es nicht…
War er Dalius Laertes? Oder nur die geniale Kopie dieser Person? Laertes wusste, dass diese Frage ihn nie loslassen würde.
Ein Vampir konnte keine Schmerzen fühlen, sagte man. Er konnte nicht weinen, hieß es. Und er fror nicht. Dennoch zog Laertes den Umhang nun fester um seine schmalen Schultern, als der Wind stärker aufkam.
Konnten Vampire träumen? Er tat es, denn er träumte von einer besseren und friedlicheren Zukunft für das Volk der Nacht, und von einer Zeit, in der er Gewissheit über sich selbst erlangt hatte.
»Können Vampire träumen?«
Dalius Laertes zuckte zusammen. Das konnte doch nicht sein? Wer sprach die Worte laut aus, die eben noch durch seine Gedanken gehuscht waren?
Es war die Stimme einer Frau.
Einer wunderschönen Frau, denn Nicole Duval, die Lebensgefährtin von Professor Zamorra, war unbestreitbar ein Eyecatcher. Sie wusste das natürlich nur zu gut, und sie trug mit ihrer aufregenden Bekleidung - die sündhaft teuer, jedoch nicht unbedingt reich an Stoff sein musste - durchaus mit dazu bei.
Dalius Laertes hatte Nicole in den unterschiedlichsten Situationen erlebt. Gastgeberin, Organisatorin und knallharte Kämpferin gegen das Dunkel, all das beherrschte sie in einer Art und Weise, die oft kaum noch
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