0845 - In der Gewalt der Shariden

Herrschaft, die bei anderen Sippen an der Tagesordnung waren, gab es unter ihnen nicht.
    Rivalitäten raubten jede Effizienz. Sie waren sinnlos, schadeten nur der eigenen Stärke und der aller Höllen wesen.
    Kelvo war der Meister, so sah es die Schöpfung vor. Ihm diente stets der Oberste Sharide, dessen Nachfolge bis ins letzte Glied geklärt war. Alle anderen hielten sich zur Verfügung, falls der Meister sie benötigte, und gingen sonst ihren eigenen Beschäftigungen nach.
    Sharishar zog sämtliche Tentakel in seinen Leib ein. Schmatzend schlossen sich die Austrittsstellen. Seine Augen glommen intensiver als je zuvor. »Ich werde Kelvo aufsuchen, um mit ihm über einen Rachefeldzug zu sprechen. Der Tod unserer Artgenossen muss gesühnt werden!«
    Sharita wagte es, das Wort zu ergreifen. »Da der Meister selbst aufgebrochen ist, um Rache zu üben, wird er unser Anliegen unterstützen. Er wird Verständnis für unsere Lage haben!«
    »Gerade jetzt!«, rief der neue Oberste Sharide voll Pathos. Er schloss die Augen und schwieg einige Sekunden, sich der Aufmerksamkeit all seiner Artgenossen bewusst. »Gerade jetzt ist es unzumutbar, dass zwei von uns gestorben sind! Ihr Tod muss gesühnt werden. Wir dürfen diese Schmach nicht auf uns sitzen lassen!«
    Diesbezüglich herrschte absolute Einheit. Zur Bestätigung verschmolzen Tentakel miteinander, wanderten die beweglichen Augen über diese neu entstandenen Brücken zum jeweiligen Nachbar und fügten sich dort ein.
    Nur Sharishar war von diesem Ritual ausgeschlossen. Er war der neue Oberste, was bedeutete, dass er über den anderen stand, die gleich waren. Die Macht brachte Stärke und Verantwortung, doch mit ihr ging auch Einsamkeit einher.
    »Ich suche jetzt unseren Meister auf«, kündigte er erneut an.
    »Das ist nicht nötig«, gellte eine dunkle, dumpfe Stimme.
    Ehrfürchtig wandten sich die Shariden um. Ihr Meister beehrte sie mit seiner Gegenwart. Unbemerkt war er an sie herangetreten.
    Er hatte sie eine halbe Ewigkeit lang nicht mehr aufgesucht, über Jahrhunderte hinweg ihrer Dienste nicht mehr in Anspruch genommen, ehe er vor wenigen Wochen Sharigk erstmals wieder zu sich gerufen hatte.
    Damals war die neue Zeit angebrochen, die Zeit, in der die Shariden wieder von sich reden machen würden. Sie würden die Bedeutungslosigkeit hinter sich lassen! Und gerade jetzt, im Augenblick der größten Euphorie, war so vieles geschehen. Der Tod der beiden Artgenossen. Der unerwartete Besuch des Meisters.
    Sharishar trat vor die dunkel wallende Wolke. »Euer Besuch ehrt uns, Herr!«
    »Zwei von euch sind eines unwürdigen Todes gestorben.« Die Stimme drang von überall und nirgends aus der schwarz wallenden Wolke.
    »Deswegen wollte ich…«
    »Ich weiß, was du beabsichtigt hast.« Kelvo quoll näher an seinen neuen Ersten Diener heran. »Oder bezweifelst du das?«
    »Selbstverständlich nicht!«
    »Euer Wunsch nach Rache passt zu meinen Absichten. Du kennst meine Feinde - Professor Zamorra, Nicole Duval, und vor allem diese ungewöhnliche magische Kreatur im Körper eines Menschen. Sie hat mich von meinem Beschwörungssymbol befreit, aber sie kann mir auch gefährlich werden. Man redet an vielen Stellen über dieses Wesen. Die Hölle und noch ganz andere Mächte beginnen unruhig zu werden wegen dieses Zwitters. Ich werde mich später um ihn kümmern. Wenn das andere erledigt ist.«
    »Wie kann ich Euch dienen, Herr?« Sharishar schmolz demütig einige Zentimeter in sich zusammen.
    Das Schwarz der Wolke intensivierte sich, und es schien, als verschlinge sie die Helligkeit der Umgebung. Der Teil der Hölle, der seit Jahrhunderten das Domizil der Shariden bildete, wurde düsterer als je zuvor.
    Kelvos Emotionen schlugen hoch, sein Zorn nahm ein zerstörerisches Ausmaß an. »Ich brauche euch alle. Zum ersten Mal seit eurer Erschaffung werdet ihr alle gemeinsam in die Schlacht ziehen. Das Ziel ist klar umrissen: Tod für Zamorra und Duval!«
    ***
    Deutschland: In der Wohnung von Sandra Berg
    »Du hast gesagt, die Shariden gerieten in Verruf«, sagte Nicole. »Wie kam es dazu?«
    »Es ist lange her.« Amos winkte ab. »Kelvo schlug damals gewaltig über die Stränge. Er hatte… wie soll ich es sagen, ohne euer zartes Gemüt zu verletzen… Geschmack an der im Meer lebenden intelligenten Spezies einer fremden Dimension gefunden. Er saugte Dutzende von ihnen aus. Das Dumme daran war, dass dieses Volk einem anderen Dämon diente. War es Astaroth? Oder Astardis? Ich erinnere