0859 - Höllenliebe
Sommer war, wo alles blühte und grünte, doch diese Szenen kamen ihr kaum in den Sinn. Dazu reichte die Phantasie nicht mehr aus.
Endlich hatte sie das Geschäft erreicht. Das Haus war aus groben Steinen errichtet worden, die man hier oben fand. Mächtige Holzbohlen dienten als Türeinfassung.
Die Tür war nicht hoch. Viele Kunden mußten sich bücken, wenn sie den Laden betraten, und auch bei Naomi streifte das Kopftuch den Querbalken.
Wärme wehte ihr entgegen. Schneeflocken wirbelten zusammen mit ihr in das Geschäft, in dem auf engstem Raum alles stand, was der Mensch so brauchte.
Im Winter erreichte kein Wagen diese Einöde. Die Ladeninhaber mußten bereits im Herbst all die Lebensmittel hochschaffen, die nachgefragt wurden.
Auf einem Rost trat Naomi den Schnee von den Füßen. Gesehen hatte sie noch keinen, aber die Lampen unter der Decke brannten und tauchten den Raum in ein weiches Licht.
Es gab kaum Platz für den Kunden. Nur einen Schritt von der Tür entfernt stand die alte Registrierkasse, davor ein Stuhl, auf dem ein grüner Filz lag. Hier hockte Signora Rossi und nahm das Geld der Kunden entgegen. Zu sehen war sie noch immer nicht, obwohl eine Glocke bei Naomis Eintreten gescheppert hatte.
Die Schwangere löste das Kopftuch und schüttelte es aus. Ein Ofen im Hintergrund gab bullige Wärme ab. Naomi schlenderte an der ersten Regalreihe entlang, wo die Lebensmittel aufbewahrt wurden, die in Dosen, Gläsern oder Papierpackungen standen.
Es gab noch ein zweites Regal. Dort wurden die Grundnahrungsmittel aufbewahrt: Zucker, Salz, Nudeln, Hülsenfrüchte… Seit Jahrzehnten hatte sich daran nichts geändert.
Signora Rossi kam, als Naomi vor diesem Schubladenregal stehengeblieben war. Die Händlerin erschien so leise, daß Naomi sie erst wahrnahm, als sie direkt neben ihr stand.
»Guten Tag…«
Die junge Frau fuhr herum.
Signora Rossi sah aus wie immer. Ein schwarzes Kleid, eine blaue Schürze, das Haar streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Knoten gebunden. Sie trug die dunkle Brille mit den dicken Gläsern, beides entstellte ihr Gesicht und gab ihr etwas Dämonisches.
Naomi rang sich zu einem Lächeln durch und nickte. Sie konnte nicht offen und ehrlich lächeln, weil sie genau wußte, daß diese Person sie nicht mochte. Sie hatte sie verstoßen, eine Schwangere, die den Namen ihres Freundes nicht erwähnte. Das war für einen Ort wie diesen eine Schande.
»Man hat dich noch geschickt?«
»Ja.«
»Warum ist deine Tante nicht gekommen?«
»Sie mußte bei den Tieren bleiben. Der Onkel auch.«
»Aha.«
»Was willst du kaufen?«
Naomi griff in die Tasche ihres Ponchos und holte ein starkes Netz hervor. »Ich werde Erbsen und Bohnen kaufen. Auch Salz brauchen wir und Seife.«
»Ist das alles?«
»Vorerst.«
Die Rossi nickte und schob die Kundin zur Seite. Dann öffnete sie eine Schublade. Sie zerrte eine Tüte vom Haken und füllte sie mit Salz. Die nächste mit Bohnen, die übernächste mit Erbsen.
Nichts wog sie ab, sie wußte, wieviel jeder nehmen wollte und was die Waren kosteten.
Naomi packte die Tüten ins Netz. »Nur noch die Seife«, sagte sie leise.
»Ja, komm mit.«
Beide Frauen gingen dorthin, wo das Regal endete und eine Hintertür zu sehen war, die zu einem kleinen Lager führte. Sie stand offen. Im Lager selbst war es kühl und dunkel, und diese Kühle wehte auch in das Geschäft.
Vor der Tür blieb Signora Rossi stehen. Zwei Stücke Seife hatte sie aus einem Extraständer genommen, und nun schaute sie der jüngeren Frau ins Gesicht.
»Ist was?«
Die Rossi lächelte falsch. »Ja, Naomi. Wenn ich dich so ansehen, muß ich sagen, daß es bald soweit ist. Oder nicht?«
»Ja, Sie haben recht.«
»Wann denn?«
»In den nächsten Tagen, denke ich.«
»Und dann?«
»Werde ich weitersehen.«
Die Rossi lachte hämisch. »Werden deine Verwandten das Balg denn aufziehen?«
Naomi zuckte nach dieser Frage zusammen. Sie war wütend, daß dieser Ausdruck gebraucht worden war. Ihr Gesicht nahm einen bleichen Farbton an, und sie schüttelte den Kopf. »Es werden zwei Bälger sein!« brachte sie hervor.
Die Händlerin erschrak. Sie ging sogar noch einen kleinen Schritt zurück. Dann erst staunte sie.
»Zwei?«
»Ja.«
»Zwillinge.«
»So ist es.«
»Auch das noch, auch das noch! Zwillinge, die keinen Vater haben.«
»Sie irren sich, Signora Rossi, meine Kinder haben einen Vater. Ich muß es am besten wissen.«
Der Blick hinter den dicken Brillengläsern
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