0867 - Die Pesthexe von Wien
unbestimmte Angst in Bruder Laurentius auslösten. Er setzte ein stummes Gebet dagegen. Es half ein wenig.
Die Nackte warf ihm noch einen letzten hasserfüllten Blick zu. Dann floh sie in einer Geschwindigkeit, die ihren Körper seltsam verschwommen erscheinen ließ. Zwei Raben folgten ihr auf dem Fuße. Der vom Kreuz Getroffene flatterte hingegen verstört in der Gruft hin und her.
Bruder Laurentius ließ sie ziehen. Mit schleppenden Schritten ging er zur entweihten Grabstätte hinüber. Was er sah, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Nicht nur der äußere Sarkophag stand offen. Auch der Innensarg war geöffnet, der Deckel ein Stück zur Seite verrutscht. Der mumifizierte Kopf Leopolds I. schaute heraus. Sein rechter Arm stand unnatürlich vom Körper ab, die gestreckten Finger schienen direkt auf Bruder Laurentius zu zeigen. Anklagend, wie es ihm erschien. Den Abt plagte plötzlich das unbestimmte Gefühl, als mache ihn der tote Kaiser ganz persönlich für diese Leichenschändung verantwortlich. Dabei hatte er sicher nur diesen seltsamen goldenen Schrein in jenem Arm gehalten, der nun so unnatürlich auf ihn zeigte.
Laurentius ächzte. Er stützte sich auf dem offenen Außendeckel ab. Jetzt, da die Spannung wich, begann er am ganzen Körper zu zittern. Es dauerte etwas, bis er bemerkte, dass seine Hand ausgerechnet einen der lorbeerumkränzten Totenköpfe erwischt hatte, die zusammen mit Bandelwerk, Orgelpfeifen, Spruchbändern und fünf Adlern die letzte Ruhestätte des einstigen Schöngeistes würdig verzierten. Er zog die Hand zurück, als habe er sie verbrannt.
Der Abt ging, unablässig Gebete vor sich hin murmelnd, in die Klosterräume hinauf und informierte die Brüder. Drei von ihnen stiegen in die Gruft hinunter und brachten den Sarkophag Leopolds in Ordnung. Den goldenen Schrein verstauten sie ebenfalls wieder darin.
Bruder Laurentius ging unterdessen zu Bett. Er war müde. Nach zweimaligem, ausgiebigem Gähnen schlief er auch schon ein.
***
Yuuki Hiroshi saß mit sechs weiteren japanischen Touristen in Bitzingers Augustinerkeller. Sie lachten und lärmten und ließen die Bierkrüge kreisen. Yuuki und den anderen Söhnen Nippons war es herzlich egal, dass sie in einem der letzten Wiener Stadtheurigenlokale zechten. Sie kannten diesen Ausdruck nicht einmal. Es reichte ihnen völlig aus, dass das Restaurant mit den halbrunden Ziegelstein-Gewölben und der dunklen Holzausstattung mittelalterlich wirkte. Vor allem die dekorativen hölzernen Weinfässer und die schweren, eisenbeschlagenen Truhen, die als Stehtische und Sitzgelegenheiten geschickt in die Möblierung integriert waren, taten es ihnen an.
Yuuki, der junge Mann aus Kawasaki, schien das ewige Lächeln gepachtet zu haben. Er griff immer wieder zur Digitalkamera und lichtete jeden Einzelnen am Tisch bei jeder noch so unbedeutenden Tätigkeit ab. Selbstverständlich würde er ihnen einige Abzüge zukommen lassen, ihre Adressen hatte er ja schon. Es war ihm eine große Ehre, als Haus- und Hoffotograf der Gruppe agieren zu dürfen.
Die dralle Wirtin mit dem dekorativen Dirndl kam wieder mal am Tisch vorbei. Sie balancierte sieben Bierkrüge vor ihrem momentan nicht so wogenden Busen und lächelte den Japanern zu.
»Mit der würde ich es gerne auch mal treiben«, sagte Kawasumi, der direkt neben Yuuki saß. »Bei diesen Brüsten würde ich mich gleich doppelt wie zu Hause fühlen.«
Brüllendes Gelächter machte die Runde. Jeder am Tisch wusste inzwischen, dass Kawasumi in der Nähe des Fujijamas wohnte. »Na, Yuuki, würdest du die nicht auch mal hernehmen wollen?«
Nein, wollte er nicht. Seine Gedanken schweiften zu Hina, der wunderbarsten Frau diesseits und jenseits der aufgehenden Sonne. Ihr mandelblütengleiches Gesicht tauchte vor ihm auf, ihre sanften Augen, ihr fröhliches Lachen, das die ganze Welt für sich einnehmen konnte. Gleich, wenn er von dieser Europareise zurück war, würde er sie im traditionellen Kimono vor den Shinto-Schrein führen und sie dort heiraten. Und er würde seinen Eid, ein treuer und sorgsamer Ehemann zu sein, so ernst nehmen wie das anschließende Zweigopfer vom heiligen Baum Sakaki an die Kami, die heiligen Geister. Niemals würde er ihren Namen durch Untreue entehren, dazu liebte er Hina viel zu sehr. Und er freute sich, mit ihr in absehbarer Zeit die Vorstadt Kawasaki zu verlassen, um ihr in Shinjuku den Luxus einer Zweizimmerwohnung zu bieten. In diesem Bezirk westlich des Kaiserpalastes schlug
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