087 - Der sentimentale Mr. Simpson
angenehm. Wenn sie nicht schon zu alt waren, dienten die Zacken nämlich in hervorragender Weise zur Befestigung des leichten Seils, das er bei sich trug. Zwei Minuten später hatte er die Mauer überklettert. Die fachmännische Öffnung des Besenkammerfensters nahm zehn Minuten in Anspruch. Dann hängte er seinen nassen Regenmantel in der Diele an einen Haken, schob die Türriegel zurück, klinkte die Kette aus und drehte leise den Schlüssel, bevor er die mit einem dicken Teppich ausgelegten Treppe hinaufschlich.
Alles war dunkel. Nur das langsame Ticken der Standuhr in der Diele ließ sich vernehmen. Mr. Simpson stieg im Takt der Uhrwerksgeräusche die Treppe hinauf um ein zufälliges Knarren der Stufen unverdächtig erscheinen zu lassen.
Er betrat das erste Schlafzimmer. Es war unbewohnt. Aus dem wertvollen Mobiliar schloß Mr. Simpson, daß hier die augenblicklich in Brighton befindlichen Eltern residieren mußten.
Er durchsuchte methodisch den Toilettentisch, fand eine kleine, nicht allzu wertvolle Diamantbrosche, die er einsteckte, und schluckte mehrere Male heftig, als er das gerahmte Bild eines kleinen Mädchens entdeckte. Tapfer kämpfte er seine aufwallenden Gefühle nieder.
Das zweite Schlafzimmer war weniger vornehm eingerichtet und, gleich dem ersten, ohne Bewohner. Die Durchsuchung förderte nichts zutage. Offensichtlich handelte es sich hier um ein Gästezimmer: Frisierkommode und Kleiderschrank waren leer. Er kehrte ins erste Zimmer zurück und leuchtete mit seiner Stablampe unters Bett. Ein Safe war nicht zu sehen. Vielleicht steht er im dritten Zimmer, dachte Simpson, machte sich auf den Weg und drückte dort die Türklinke leise nieder. Sofort nach Betreten des Raumes wußte er, daß jemand in dem undeutlich zu erkennenden Himmelbett lag. Er hörte den Schläfer regelmäßig atmen, zögerte eine Sekunde, schlich langsam weiter, blieb vor dem Bett stehen und lauschte.
Ja, ganz regelmäßige Atemzüge. Er wagte nicht, den Schläfer anzuleuchten. Das mußte wohl das Kinderzimmer sein, schloß er messerscharf, bückte sich und leuchtete unters Bett. Er riß die Augen auf. Da war der ›Safe‹! Eine große Stahlkassette. Er knipste das Licht aus, legte die Lampe auf den Boden, schob die Arme unters Bett und zog die Kassette hervor. Sie war sehr schwer, aber man konnte sie noch tragen.
Er steckte die Lampe in die Tasche und stemmte die Kassette hoch. Wenn es sich wirklich um den erwarteten Safe gehandelt hätte, wäre diese Leistung nicht möglich gewesen. Selbst dieser Stahlkasten nahm seine ganze Kraft in Anspruch. Er umklammerte ihn fest und trat den Rückzug an. Als der das Zimmer zur Hälfte durchquert hatte, hörte er einen knackenden Laut, und im nächsten Augenblick war der Raum taghell erleuchtet. In seiner verständlichen Aufregung rutschte ihm die Kassette aus den Fingern; er griff verzweifelt danach und schaffte es in letzter Sekunde, seine Last lautlos abzusetzen. Mehr war ihm nicht möglich. Dann drehte er sich um und starrte mit offenem Mund das Mädchen an, das ihn vom Bett her neugierig betrachtete.
In seinem ganzen Leben hatte der empfindsame Simpson kein so wunderschönes Kind gesehen. Das langwallende blonde Haar wurde von einem blauen Band zusammengehalten, und die großen blauen Augen zeigten weder Furcht noch Erregung. Das Kind setzte sich auf und umfaßte mit den zarten Händen die unter der Decke verborgenen Knie.
»Guten Abend, Herr Einbrecher«, sagte es sanft und lächelte.
Simpson schluckte.
»Guten Abend, Miss«, erwiderte er heiser. »Hoffentlich bin ich nicht ins falsche Haus geraten. Ein Freund von mir hat mich gebeten, vorbeizukommen und eine Kassette abzuholen, die er vergessen hatte -«
»Du bist ein Einbrecher«, erklärte das kleine Fräulein und nickte weise, »natürlich bist du einer. Es freut mich sehr, dich zu sehen. Ich wollte immer schon einen Einbrecher kennenlernen.«
Mr. Simpson, von Gefühlen mannigfacher Art bestürmt, fand keine passende Antwort. Er sah auf die Kassette hinab, starrte das Kind wieder an und blinzelte dann heftig.
»Komm her und setz dich«, sagte die Kleine und deutete auf einen Stuhl neben dem Bett.
Mr. Simpson gehorchte.
»Wie lange bist du schon Einbrecher?«
»Oh, schon ziemlich lange, Miss«, sagte Mr. Simpson schwach.
»Das hättest du nicht sagen sollen - du mußt sagen, daß du es zum erstenmal tust«, meinte sie. »Warst du als kleiner Junge auch ein Einbrecher?« »Nein, Miss«, entgegnete Mr. Simpson
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