0879 - Henker-Dämmerung
wie ein kleines Kind angesichts der übermenschlichen Mächte, die ihn nun fest im Griff hatten.
Und dann manifestierten sich die Geister der Natur!
Simoor konnte sie nicht mit seinen körperlichen Augen sehen. Doch er spürte ganz deutlich, dass sie vorhanden waren. Und der junge Mönch erblickte sie, so wie man Dinge und Menschen im Traum erblickt.
Die Geister der Natur lächelten. Sie hielten Simoor vorsichtig, so wie eine Mutter ihr Neugeborenes hält.
Erst nach und nach kehrte Simoor nach diesem Erlebnis in die normale Wirklichkeit zurück. Er befand sich immer noch auf dem Kampfplatz.
Doch nun musste er feststellen, dass er in der Luft schwebte! Zwischen seinen Stiefeln und dem gepflasterten Boden befand sich eine Handbreit Luft.
»Wir Schwert-Mönche können in der Luft gehen«, sagte der Abt mit ruhiger Stimme. »Du hast diese Kunst noch nicht gelernt, Bruder Simoor. Aber ich werde sie dir zeigen. Ich werde dich lehren, ohne Boden unter den Füßen zu wandern.«
»Ich… ich habe die Geister der Natur gesehen, Meister!«
»Ja, die Geister der Natur sind immer bei uns. Auch wenn wir sie üblicherweise nicht sehen können. Aber du kannst immer Kontakt zu ihnen aufnehmen, Bruder Simoor. Sie sind bei dir und werden dich niemals verlassen.«
»Aber wie, Meister?«
»Indem du die Regeln befolgst.« Nun klang die Stimme des Abtes härter. »Wenn du deinen eigenen Lüsten nicht widerstehen kannst, bist du wie ein Blatt im Wind. Aber wenn du lernst, dich selbst zu beherrschen, wirst du auch deine Feinde beherrschen. - Und Feinde haben wir mehr als genug.«
Simoor warf seinem Meister einen fragenden Blick zu.
»Wisse, dass der Henker von Ankora und seine Truppen unser Land bedrohen, Bruder Simoor. Wir müssen jeden Morgen damit rechnen, von ihnen überfallen zu werden. Und dann sind wir, die Schwert-Mönche, die einzige Verteidigungskraft unserer friedliebenden Heimat.«
Simoor erschauderte innerlich. Er hatte bei seiner gestrigen Sauferei in der Schänke furchtbare Gerüchte über jenen Schergen des Dunklen Herrschers gehört, der sich Henker nannte. Der Henker schien keinen Namen zu führen. Er brauchte ihn wohl auch nicht. Es reichte, dass man seinen Beruf kannte.
Und der Henker richtete einen jeden, der sich nicht dem Dunklen Herrscher unterwarf…
Simoor nahm sich vor, ab sofort Disziplin zu üben. Denn er wollte auf keinen Fall, dass seine Heimat in die Hände des Dunklen Herrschers fiel.
Keinen Wein mehr!, versprach Simoor sich selbst. Und auch keine Besuche bei Majna mehr! Jedenfalls nicht in den nächsten drei Tagen…
Der Abt nahm seine Schwertspitze von Simoors Klinge fort. Sogleich stürzte der junge Mönch zu Boden.
»Noch bist du von meiner geistigen Kraft abhängig, Bruder Simoor. Aber bald wird schon der Tag kommen, an dem du so fleißig lernst, dass du aus eigener Kraft in der Luft schweben kannst.«
»Jawohl, Meister.«
Simoor faltete die Hände vor der Brust und verbeugte sich. Das Schwert hatte er zuvor weggesteckt.
»Aber dein Verhalten muss bestraft werden, Bruder Simoor. Du wirst den Landesteg südlich des Klosters säubern. Er ist völlig mit Moosen und Pilzen bewachsen. Du arbeitest bis Sonnenuntergang. Und du kehrst nicht eher zurück, bis der Landesteg wieder sauber und schön ist.«
»Aber, Meister…«
»Ja?«
»Der Fluss ist längst verlandet. An diesem Steg wird nie wieder ein Boot anlegen können! Die Arbeit ist sinnlos.«
»Wer kann das schon sagen?« Der Abt lächelte. »Vielleicht wird der Fluss eines Tages wieder Wasser führen. Und was heute sinnlos erscheint, kann morgen schon lebensrettend sein.«
»Jawohl, Meister.«
Simoor spürte, dass die Audienz beendet war. Der Meister der Harmonie wies Bruder Tedo an, den jungen Mönch mit einer harten Bürste, Kernseife, Eimer und Messerchen auszustatten.
Mit dieser Ausrüstung wanderte Simoor den steilen Pfad vom Kloster zum verlandeten Flüsschen hinunter. Er würde viel Zeit haben, um über seine Verfehlungen nachzudenken.
***
Kaum hatte der Meister der Harmonie den jungen Simoor mit seinem Auftrag davongeschickt, als ihm hoher Besuch gemeldet wurde.
»Der Weisenrat von Go'nam macht Euch seine Aufwartung, Meister!«
So meldete es einer der jungen Mönche, die am Haupttor des Klosters Pförtnerdienste versahen. Der Abt bedankte sich. Dann schritt er würdevoll quer durch die festungsähnlichen Anlagen, bis er die Große Halle der Natur erreicht hatte. Hier, wo einige besonders kostbare Statuen zur
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