0879 - Henker-Dämmerung
unendlich viel weiser und klüger war als er, Tedo, selbst. Wenn der Meister der Harmonie eine solche Frage stellte, dann kannte er die Antwort sehr wohl. Und falls nicht, dann gab es auch wirklich keine Antwort. Das war jedenfalls Bruder Tedos Überzeugung…
Die Stille breitete sich in dem Meditations-Gemach aus. Doch weder Bruder Tedo noch sein Abt fürchteten sich vor der Geräuschlosigkeit, der Ruhe. Im Gegenteil. Sie half ihnen, sich zu sammeln.
Bei äußerster Konzentration konnte man ein leises Waffenklirren vernehmen, das vom Übungsplatz am anderen Ende des riesigen Klosters an die Ohren der beiden Männer drang.
Es stammte von den Schwertern junger Brüder, die ihre Schwert-Meditation begonnen hatten…
Plötzlich lächelte der Meister der Harmonie wehmütig.
»Was glaubst du, Tedo? Wird der Künder des Dunklen Herrschers seine Truppen auch gegen Go'nam aufmarschieren lassen? Werden die Heerscharen unter dem Schwert von Ankora unsere Landesgrenzen überrennen?«
Der Schwert-Mönch zog nachdenklich seine buschigen Augenbrauen zusammen.
»Wir wären eine leichte Beute für den Henker, Meister.«
»Warum?«
Der Abt fragte, obwohl er die Antwort kennen musste. Aber das erstaunte Bruder Tedo nicht. Diese Frage-und-Antwort-Spiele machte der Meister der Harmonie oft mit seinen Mönchen. Auf diese Weise zwang er sie zum Mitdenken und schärfte dadurch ihren Verstand. Die Geister der Natur liebten es, wenn ihre Anhänger selbstständig und klar denken konnten.
»Weil unser friedliches Go'nam keine Streitkräfte besitzt, Meister«, erwiderte Tedo. »Andererseits glaube ich, dass der Henker sich vor uns, den Schwert-Mönchen, fürchtet.«
»Warum sollte er das tun, Bruder Tedo? Wir sind doch nur ein paar Hundert bewaffnete Klosterbrüder. Was können wir gegen die riesige Armee des Dunklen Herrschers von Ankora ausrichten?«
»Aber wir verfügen über magisches Wissen, Meister. All jene Kostbarkeiten, die ihr uns gelehrt habt.«
»Nicht ich«, verbesserte der Meister seinen Schüler. »Es waren die Geister der Natur. Wer im Einklang mit der Welt lebt, wird unglaubliche Kräfte in seinem Inneren erwecken können. Ich habe euch nur die Methoden gelehrt. Aber diese Kräfte waren schon in euch selbst vorhanden.«
»Jedenfalls denke ich, dass der Henker nur aus Furcht vor uns Schwert-Mönchen bisher Go'nam ungeschoren gelassen hat. - Gut, dass er Simoor nicht kennt!«
Den letzten Satz hatte Tedo voller Erbitterung hervorgestoßen. Der Meister der Harmonie verzog sein mageres Gesicht. Simoor war der jüngste Schwert-Mönch im Kloster. Er hatte gerade erst begonnen, die Geheimnisse der Natur kennenzulernen. Leider schien er Probleme mit der eisernen Disziplin hinter den Klostermauern zu haben. Schon öfter hatte der Abt ihn daher bestrafen müssen.
»Wie meinst du das, Bruder Tedo?«
»Simoor ist eine Schande für unseren Orden, Meister! Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht, wie ihr ihn aufnehmen konntet! Wenn der Künder des Dunklen Herrschers diesen jungen Taugenichts kennen würde, hätte er ganz gewiss keinen Respekt vor uns!«
»Du sprichst in Rätseln, Bruder Tedo. Was hat Simoor denn nun schon wieder angestellt?«
Der Vertraute des Abtes druckste herum. Simoors Verfehlungen waren ihm offenbar so peinlich, als ob sie ihm selbst unterlaufen wären.
»Ich habe ihn gestern in die Stadt geschickt, um Waffenöl zu kaufen«, sagte Tedo schließlich. »Doch er kam nicht zeitig zurück. Schließlich bin ich mit Bruder Arto aufgebrochen, um unseren jungen Mitbruder zu suchen.«
»Sprich weiter, Bruder Tedo. Auch, wenn es dir schwer fällt.«
»Schließlich haben wir ihn gefunden, Meister. Simoor lag hinter einer Schänke auf einem Strohhaufen. Er war sinnlos betrunken.«
»Bei den Geistern der Natur!«
Berauschende Getränke waren bei den Schwert-Mönchen streng verboten. Nach ihrem Glauben nahm der Alkohol den Schwertern genauso wie dem Verstand die Schärfe.
Simoor war also alkoholisiert gewesen. Aber der Abt spürte, dass er noch nicht die ganze Wahrheit gehört hatte.
»Weiter, Bruder Tedo.«
»Simoor lag mit nacktem Hintern auf dem Strohlager.« Bruder Tedo biss die Zähne zusammen, bevor er weitersprach. »Irgendwelche Bengel haben vulgäre Sprüche mit Tinte auf seine Kehrseite geschrieben. Und Bruder Simoors Schwert musste ich in der Pfandleihe auslösen.«
Der Abt konnte nun die Verbitterung seines Vertrauten verstehen. Wenn Bruder Simoor wirklich sein Schwert versetzt hatte, um sich mit dem
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