09 - Befehl von oben
lang war's nicht her, daß der Expräsident direkt von der feierlichen Amtseinführung seines Nachfolgers zum Bahnhof ging, um die Fahrkarte nach Hause zu lösen.
Jetzt wurden Spediteure eingesetzt, und zweifellos würde die Familie von der Air Force ausgeflogen, doch mit dem Auszug würden die Kinder die Schule zurücklassen und die hiesigen Freunde, nach Kalifornien zurückkehren zum Leben, soweit es ihnen ihre Angehörigen wiederaufbauen konnten. Busineß hin, Busineß her, es war gefühllos, dachte Ryan, während er gedankenversunken auf das belgische Telegramm starrte.
Darüber hinaus war Jack selten dazu aufgefordert worden, die Kinder eines Mannes zu trösten, den er gekannt hatte, und verdammt sicher hätte er ihnen niemals ihr Zuhause weggenommen. Er schüttelte den Kopf. Das alles war nicht seine Schuld, aber dies war sein Job.
Das Telegramm, dem er sich jetzt wieder zuwandte, betonte, daß Amerika in knapp dreißig Jahren gleich zweimal geholfen habe, das kleine Land zu retten, es dann durch die NATO-Allianz beschützt habe und daß zwischen Amerika und dem Land, das die meisten Amerikaner auf dem Globus nur mit Mühe orten könnten, ein Band des Blutes und der Freundschaft bestehe. Und das stimmte: Amerika hatte meistens das Richtige getan - und die Welt war dadurch viel besser.
*
Inspektor Patrick O'Day war froh über die Kälte. Seine Karriere als Ermittlungsbeamter erstreckte sich nun über knapp dreißig Jahre, und dies war nicht das erstemal, daß er es mit vielen Leichen und deren Teilen zu tun hatte. Das erstemal war an einem Maitag in Mississippi gewesen, eine Bombe vom Ku-Klux-Klan in eine Sonntagsschule - elf Opfer. Hier verhinderte die Kälte zumindest den schauderhaften Leichengeruch. Er hatte nie hohes Tier im Bureau werden wollen - >Inspektor< war ein Titel von unterschiedlicher Bedeutung im Sinne des Dienstalters. O'Day fungierte, etwa wie Dan Murray, als Troubleshooter, als Vermittler, der von Washington oft zu heiklen Fällen abkommandiert wurde. Weithin anerkannt als hervorragender Praktiker, konnte er sich mit echten Fällen befassen, großen und kleinen, statt die Arbeit anderer von oben aus zu beaufsichtigen, was er langweilig fand.
Assistant Director Tony Caruso hatte eine andere Laufbahn hinter sich. Zweimal war er Special Agent in Charge eines Field Office gewesen, war zum Leiter der FBI-Ausbildungsabteilung aufgestiegen, dann Chef des Washington Field Office geworden, das groß genug war, daß ihr Leiter den Dienstgrad >AD< trug, aber auch einen der schlimmsten Bürostandorte in ganz Nordamerika belegte. Caruso genoß die Macht, das Prestige, die hohe Bezahlung und den reservierten Parkplatz, den ihm sein Status bescherte, aber oft neidete er seinem alten Freund Pat die meist schmutzige Praxis.
»Was stellen Sie fest?« fragte Caruso, während er auf die Leiche starrte. »Vor Gericht geh' ich damit noch nicht, aber der Mann hier war schon
Stunden tot, bevor der Vogel runterkam.«
Beide sahen einem grauhaarigen Gerichtsmediziner zu, der an der
Leiche werkelte. Alle möglichen Tests mußten vorgenommen werden. Einmal Auswertung der inneren Körpertemperatur - mit
computergestützter Berücksichtigung der Umweltbedingungen -, und wenn
auch die Daten den Ansprüchen beider Führungsbeamten kaum genügten,
würde ihnen jeder Zeitpunkt vor 21.46 Uhr des Vorabends zur Todeszeit
sagen, was sie wissen mußten.
»Messerstich ins Herz«, sagte Caruso und erschauerte. Die Brutalität
eines Mordes nahm einen immer noch mit. »Wir haben den Piloten.« O'Day nickte. »Hab's schon gehört. Drei Streifen bedeutet, daß dieser
der Kopilot war, und er wurde ermordet. Damit war's wahrscheinlich nur
einer.«
»Woraus besteht die Crew bei so einem Flugzeug?« fragte Caruso den
NTSB-Beamten.
»Zwei. Auf den älteren gab es noch einen Bordingenieur, aber die
neueren brauchen keinen. Auf echten Langstreckenflügen ist manchmal
noch ein dritter Pilot dabei, aber die Vögel sind ja heute dermaßen
automatisiert, und die Motoren gehen kaum je kaputt.«
Der Gerichtsmediziner stand auf und winkte die Helfer mit dem
Leichensack heran, ehe er sich den anderen zuwandte. »Sie möchten das
vorläufige Ergebnis?«
»Darauf können Sie wetten«, erwiderte Caruso.
»Definitiv tot vor dem Absturz. Keine Blutergüsse durch den Aufschlag.
Die Brustwunde ist relativ alt. Im Gurtverlauf müßten Prellungen sein, gibt's
aber nicht, nur ein paar Kratzer und verdammt wenig Blut. Nicht einmal,
wo der Kopf abgetrennt wurde,
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