09 - Old Surehand III
denke mir das ohnedies.“
„Aber was sagt Ihr dazu?“
„In diesem Augenblick nichts.“
„Aber später?“
„Später werde ich mir denken, was Winnetou sich denkt.“
„Damit drehen wir uns im Kreis. Was denkt Winnetou?“
„Was recht ist.“
„Schön! Einverstanden! Das juridische Recht aber sagt, daß – – –“
„Pshaw!“ unterbrach ich ihn. „Wir sind hier nicht Juristen, sondern zunächst und vor allen Dingen hungrige Leute. Laßt uns essen!“
„Ach, essen! Damit wollt Ihr mir nur ausweichen!“
„Gar nicht! Ich will Euch dabei nur zeigen, was nach meiner Ansicht juridisch ist.“
„Nun was?“
„Gestern abend aßen die Tramps, und wir bekamen nichts; jetzt essen wir, und sie bekommen nichts. Ist das nicht die allerjuridischste Rechtshandhabung, die sich denken läßt?“
„Hole Euch – – – der Teufel, möchte ich auch bald sagen! Ich wette meinen Kopf, daß Ihr imstande seid, die Kerle laufenzulassen!“
„Und ich wette nicht, weiß aber, daß geschehen wird, was richtig ist.“
Wir ließen es uns schmecken und teilten der Squaw das Beste mit, was wir hatten; sie nahm es aus den Händen Apanatschkas, ohne ihn zu kennen. Weiter erhielt niemand etwas. Als ich und Winnetou fertig waren, gingen wir beide hinaus, um das Gepäck Thibauts zu untersuchen. Das Packpferd hatte Eßwaren, einige Frauengewänder, wenig Wäsche und dergleichen getragen; etwas Besonderes fanden wir da nicht. Beim Pferd der Frau war auch nichts zu entdecken. Wir wendeten uns nun zu dem Pferd des Mannes.
Am Sattelknopf hing sein Gewehr. In der rechten Satteltasche steckte eine geladene Doppelpistole und ein blechernes Kästchen mit verschiedenen Farben, zum Bemalen des Gesichtes jedenfalls, weiter nichts. In der linken fanden wir Patronen, ein Rasierzeug mit Seife und wieder ein Blechkästchen, viel dünner als das vorige. Es enthielt ein langes, schmales, viereckiges, sehr gut gegerbtes, weißes Lederstück mit roten Strichen und Charakteren.
„Ah, ein ‚sprechendes Leder‘, wie die Roten sagen!“ meinte ich zu Winnetou. „Das bringt uns vielleicht eine Entdeckung.“
„Mein Bruder zeige es her!“ sagte er.
Ich gab es ihm. Er betrachtete es lange und aufmerksam, schüttelte den Kopf, betrachtete es abermals, schüttelte wieder und sprach endlich:
„Dies ist ein Brief, den ich nur halb verstehe. Er ist ganz nach der Weise der roten Männer mit der Messerspitze geschrieben und mit Zinnober gefärbt. Diese vielgewundenen Linien sollen Flüsse vorstellen; das Leder ist eine Landkarte. Hier ist der Republican-River, hier der doppelte Salmon; dann kommt der Arkansas mit dem Big Sandy-Creek und dem Rush-Creek, hierauf der Adobe- und der Horse-Creek, südlich der Apishapa-River und der Huerfano-Fluß. So kommt ein Creek und ein Fluß nach dem andern bis hinauf zum Park von San Louis. Diese Wasser kenne ich alle; aber es gibt Zeichen dabei, welche ich nicht verstehe, Punkte, Kreuze verschiedener Gestalt, Ringel, Dreiecke, Vierecke und andere Figuren. Sie stehen auf der Karte da, wo sich in der Wirklichkeit keine Stadt, kein Ort, kein Haus befindet. Ich kann nicht entdecken, was alle diese vielen Zeichen zu bedeuten haben.“
Er gab mir das Leder zurück, welches mit wirklich großer Sorgfalt und Feinheit graviert und gefärbt worden war. Man konnte den kleinsten, feinsten Strich ganz deutlich sehen. Auch ich konnte mir die Zeichen nicht erklären, bis ich das Leder umwendete. Da waren sie wiederholt, untereinander aufgezählt, und daneben standen Namen, welche keine Orts- sondern Personennamen waren. Höchst sonderbar! Ich sann und sann, lange vergeblich, bis mir endlich auffiel, daß einige von ihnen Namen von Heiligen waren. Nun hatte ich es! Ich zog mein Taschenbuch heraus, welches ein Kalendarium enthielt, verglich die Namen mit den Entfernungen der Zeichen auf der Karte und konnte nun dem Apachen erklären:
„Dieser Brief ist an den Medizinmann geschrieben worden und soll ihm sagen, wo und an welchem Tag er den Absender desselben treffen soll. Eine gewöhnliche Anführung der Monatstage würde alles verraten. Die Christen benennen, wie ich dir schon einigemal gesagt habe, alle Tage des Jahres mit den Namen frommer oder heiliger Männer und Frauen, welche längst gestorben sind. Diese Bezeichnung hat der Schreiber gewählt. Eine Enträtselung ist um so schwieriger, als und weil die Namen nicht auf der Karte, sondern auf der andern Seite stehen. Hier lese ich: Ägidius, Rosa, Regina,
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