09 - Old Surehand III
Protus, Eulogius, Josef und Thekla; das bedeutet den 1., 4., 7., 11., 13., 18. und 23. September. An diesen Tagen wird der Absender des Briefes da sein, wo die Zeichen, welche neben den Namen stehen, sich auf der Karte befinden. Wir haben also den ganzen Reiseplan des Absenders und des Empfängers mit Orts- und Zeitangabe hier in den Händen. Hast du mich verstanden?“
„Ich verstehe meinen Bruder genau, nur daß ich nicht weiß, auf welchen Tag des Jahres diese Männer- und Frauennamen fallen.“
„Das schadet nichts, wenn ich es nur weiß. Dieses Leder kann großen Wert für uns bekommen; behalten aber dürfen wir es nicht.“
„Warum?“
„Tibo taka soll nicht ahnen, daß wir seinen Weg kennen.“
„So muß mein weißer Bruder die Schrift des Leders abschreiben!“
„Ja, das werde ich sogleich tun.“
Winnetou mußte den Brief halten, und ich kopierte ihn in mein Notizbuch, indem ich den Pferdesattel als Unterlage nahm. Dann legten wir das Leder in den Blechkasten zurück, den wir in die Satteltasche steckten. Als dies geschehen war, gingen wir wieder nach dem Lagerplatz.
Eben als wir um die letzte Buschecke biegen wollten, kam uns die Squaw entgegen. Sie war drin aufgestanden und fortgegangen, ohne daß Thibaut sie hatte halten können, weil er gefesselt war; seine Zurufe hatte sie nicht beachtet. Wie sie so an uns vorüberschritt, hocherhobenen Kopfes, doch gesenkten Auges, ohne uns zu beachten, langsam und gemessen Fuß um Fuß weitersetzend, hatte sie das Aussehen einer Somnambulen. Ich drehte mich wieder um und ging ihr nach. Sie blieb stehen, brach einen schwanken Zweig ab und wand ihn sich um den Kopf. Ich richtete einige Fragen an sie, ohne daß ich eine Antwort bekam; sie schien mich gar nicht zu hören. Ich mußte ein bekanntes Wort bringen und fragte:
„Ist das dein Myrtle-wreath?“
Da schlug sie die Augen zu mir auf und antwortete tonlos:
„Das ist mein Myrtle-wreath.“
„Wer hat dir dieses Myrtle-wreath geschenkt?“
„Mein Wawa Derrick.“
„Hatte Tehua Bender auch ein Myrtle-wreath?“
„Auch eins!“ nickte sie lächelnd.
„An demselben Tage, als du eins hattest?“
„Nein.“
„Später?“
„Nein.“
„Also eher?“
„Viel, viel eher!“
„Sahst du sie mit ihrem Myrtle-wreath?“
„Ja. Sehr schön war Tehua, sehr schön!“
Meinen Gedankengang verfolgend, fragte ich, so seltsam dies hier vom Papier klingen mag, weiter:
„Hast du einen Frack gesehen?“
„Frack – – – ja!“ antwortete sie nach einigem Sinnen.
„Einen Hochzeitsfrack?“
Da schlug sie die Hände zusammen, lachte glücklich und rief:
„Hochzeitsfrack! Schön! Mit einer Blume!“
„Wer trug ihn? Wer hatte ihn angezogen?“
„Tibo taka.“
„Da standest du an seiner Seite?“
„Bei Tibo taka“, nickte sie. „Meine Hand in seiner Hand. Dann – – –“
Sie zuckte wie unter einem plötzlichen Schauder zusammen und sprach nicht weiter. Meine nächsten Fragen blieben ohne Antwort, bis mir einfiel, daß Schahko Matto erzählt hatte, Tibo taka habe, als er zu den Osagen kam, einen verbundenen Arm gehabt. Ich folgte dieser Assoziation der Ideen und erkundigte mich:
„Der Frack wurde rot?“
„Rot“, nickte sie, wieder schaudernd.
„Vom Wein?“
„Nicht Wein, Blut!“
„Dein Blut?“
„Blut von Tibo taka.“
„Wurde er gestochen?“
„Kein Messer!“
„Also geschossen?“
„Mit Kugel.“
„Von wem?“
„Wawa Derrick. Oh, oh, oh! Blut, viel Blut, sehr viel Blut!“
Sie geriet in eine große Aufregung und rannte fort von mir. Ich ging ihr nach; sie wich mir aber, schreiend vor Angst, aus, und ich war gezwungen, es aufzugeben, weitere Antworten von ihr zu bekommen.
Ich war jetzt überzeugt, daß an ihrem Hochzeitstag ein Ereignis eingetreten sei, welches sie um ihren Verstand gebracht hatte. Ihr Bräutigam war Thibaut, ein Verbrecher. War er an diesem Tag entlarvt und von ihrem eigenen Bruder geschossen worden? Hatte Thibaut deshalb diesen Bruder später ermordet? Ich fühlte natürlich tiefes, tiefes Mitleid mit der Unglücklichen, deren Wahnsinn jedenfalls unheilbar war, zumal jener Tag um vielleicht dreißig Jahre zurückzuliegen schien. Der Frack ließ darauf schließen, daß die Hochzeit, obgleich sie selbst zur roten Rasse gehörte, in sehr anständiger Gesellschaft entweder gefeiert worden war oder gefeiert hatte werden sollen. Sie war ja Christin gewesen, die Schwester eines berühmten roten Predigers; das gab wohl eine hinreichende
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