090 - Moerderische Knochenhaende
zu werden? Sie war ein einfaches Mädchen, das nicht viel galt im Dorf, vor allem, weil sie nicht von hier stammte, sondern aus Sizilien heraufgekommen war. Die Leute glaubten, sie herum schieben und ausnutzen zu können. Das sollte anders werden.
Maria betrat die Kapelle, Draußen hörte sie einen Nachtvogel schreien. Sie fröstelte und zog das Tuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, noch etwas enger.
Im Dorf hatte man ihr schon oft erzählt, daß in dieser Kapelle aller Reichtum und alles Glück der Familie des Schloßherrn begründet lagen. Im Mittelalter, als der Marchese Luigi di Cosimo dieses Land verliehen bekommen hatte, hatte er als erstes die Kapelle errichtet. Und seitdem, so hieß es, blieb ihm das Glück treu – ihm und allen, die hier beten durften.
Maria Petrarca sank auf die Knie. Der Rosenkranz glitt durch ihre Finger. Ihre Angst legte sich. Sie wurde ruhig, und die Umwelt schien für sie zu versinken. Nur flüchtig dachte sie noch einmal daran, daß es ein Geheimnis um diese kleine Kirche gab – daß in gewissen Zeitabständen auch großes Leid von ihr ausgegangen war.
Draußen kam Wind auf. Die Tür knarrte und schwang in den Angeln hin und her. Das Geräusch beunruhigte Maria. Sie ärgerte sich darüber, daß sie versäumt hatte, die Tür zu schließen. Sie wurde abgelenkt. Der Wind heulte im Gebälk des alten Hauses. Ihr war, als ob jemand mit flüsternder Stimme zu ihr spreche. Sie horchte.
War sie nicht mehr allein?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Was sollte sie sagen, wenn sie hier überrascht wurde?
Plötzlich blitzte es, dann folgte ein so mächtiger Donnerschlag, daß Maria glaubte, die Kapelle breche über ihr zusammen. Sie sprang auf. Die Lichter verlöschten. Nur noch ein schwacher Schein drang durch die Fenster. Regentropfen prasselten auf das Dach.
Das Mädchen eilte auf die Ausgangstür zu, doch bevor sie sie erreichte, warf der Wind sie ins Schloß. Maria rüttelte am Griff, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Es war, als ob jemand sie von draußen mit aller Kraft zuhielte.
Zitternd lehnte sie sich gegen das Holz. Sie versuchte, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen. Sie spürte, daß sie nicht mehr allein war, aber sie konnte niemanden sehen. Verängstigt suchte sie in ihren Taschen nach Streichhölzern. Sie atmete auf, als sie welche fand. Mit ausgestreckten Händen tastete sie sich auf den Altar zu, wo die Kerzen standen. Sie zündete ein Streichholz an, doch sie ließ es sofort wieder fallen.
Ein schwarzer Sarkophag stand zwischen ihr und dem Altar. Dabei wußte sie genau, daß er vorher noch nicht dagewesen war. Sie wich zurück. Eine eiskalte Hand schien ihr über den Rücken zu streichen. Irgend etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Eine so schwere und große Truhe konnte nicht von selbst hierhergekommen sein.
Maria fuhr herum und rannte wieder zur Tür. Dabei stolperte sie über einen Kerzenständer, der umgefallen war. Sie stürzte auf den Boden, sprang wieder auf und rüttelte erneut an der Tür, doch mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor. „Maria“, wisperte sie. „Hilf mir.“ Abermals blitzte es. Maria sah ganz deutlich, daß sich der Deckel des Sarkophags leicht geöffnet hatte. Ihr Herz schien stehenzubleiben. Wie gebannt blickte sie auf die schwarze Truhe, die in der Dunkelheit nur einen verschwommenen Schatten bildete. Sie wartete voller Bangen auf den nächsten Blitz. Als er kam, beobachtete sie eine blasse Hand, die sich durch den Spalt herausschob.
Sie schrie auf, doch niemand hörte sie. Das Donnergrollen übertönte alle Geräusche.
Als es ruhiger wurde, vernahm Maria ein leises Knarren. Sie wußte, daß es der Deckel des Sarkophags war, der sich mehr und mehr hob. Wieder blitzte es. Maria sah, daß sie sich nicht geirrt hatte. Sie sank auf die Knie herab, sie konnte sich nicht länger auf den Beinen halten.
Dann wurde es still. Das Gewitter schien mit einem Schlag vorbei zu sein. Das Mädchen zündete mit bebenden Händen ein Streichholz an und hielt es an einen Kerzendocht. Jetzt wurde es wieder heller in der Kapelle. Der Sarkophag stand noch immer dort, wo er eben gewesen war. Der Deckel war offen.
Maria ergriff die Kerze, erhob sich und näherte sich der Truhe. Sie wagte es kaum, zu atmen. Am liebsten wäre sie geflohen, aber sie wußte, daß die Tür sich nicht öffnen ließ. Also folgte sie ihrer Neugierde. Sie mußte wissen, was sich in dem Sarg befand.
Wieder kam die weiße Hand hervor. Maria trat noch
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