090 - Moerderische Knochenhaende
Bewunderung ausdrücken.
Carlotta Vespari betrat das verdunkelte Zimmer, nachdem Rodrigo Rossetti, der Diener, ihr die Tür geöffnet hatte. Die Vorhänge waren zugezogen, so daß sie zunächst nicht wußte, wohin sie sich wenden sollte.
„Kommen Sie her, mein Kind“, sagte jemand.
Die Erzieherin gewöhnte sich langsam an das schwache Licht. Sie sah eine in sich zusammengesunkene, alte Dame, die in einem Winkel des Raumes in einem Sessel saß. Langsam näherte sie sich ihr.
„Nehmen Sie doch Platz.“
Carlotta Vespari setzte sich.
Die Marchesa Luisa di Cosimo, die Mutter der Zwillinge, war etwa 65 Jahre alt, sah äußerst gebrechlich aus und trug schwarze Kleider. Ihr kleines Gesicht war verschleiert.
„Ich vertrage das Licht nicht mehr so gut. Seit dem Tod meines Mannes vor einem halben Jahr habe ich eine sehr labile Gesundheit. Sie verstehen? Meine Augen…“
„Ich verstehe sehr wohl, Marchesa.“
„Ich vertraue Ihnen meine Kinder an, Carlotta, weil ich will, daß sie im Sinne der alten Traditionen Italiens und trotzdem zu modernen Menschen erzogen werden. Ich habe Sie unter zahlreichen Bewerberinnen ausgewählt, weil Sie sich in dieser Landschaft und in der Kultur von Florenz so ungewöhnlich gut auskennen. Bei Ihnen hatte ich das Gefühl, als hätten Sie schon einmal auf dem Schloß hier gelebt. Keine der anderen kannte sich mit den Kunstschätzen von Florenz so gut aus wie Sie. Ich lege besonderen Wert darauf, daß Silvana und Julia die Bedeutung von Florenz von Grund auf erfassen. Sie sollen lernen, wie man Konversation auf höchster Ebene betreibt, ohne dabei angeben zu müssen. Meine Töchter sollen einmal in die ersten Kreise Italiens einheiraten. Sie haben bereits alles, was sie dafür benötigen – nur fehlt noch der letzte, elegante Schliff, und den sollen Sie ihnen geben.“
„Ich verspreche Ihnen, Marchesa, daß ich mich sehr bemühen werde.“
Carlotta Vespari erhob sich, als die Mutter der Zwillinge ihr mit einer hochmütigen Geste zu verstehen gab, daß die Unterredung beendet war. Sie neigte ihren Kopf und verabschiedete sich mit einem warmherzigen Lächeln.
Vor der Tür blieb sie zunächst stehen, zögerte einige Sekunden und ging zu einem der hohen Fenster. Sie blickte in den Park hinunter. Die Zwillinge kamen von der Kapelle zurück.
Carlotta Vespari fühlte sich von diesem Gebäude, das unter einer weit ausladenden Blutbuche stand, magisch angezogen. Immer wieder fragte sie sich, was dort geschehen sein mochte. Ein Mädchen war ermordet worden – aber unter welchen Umständen!
Welcher Mörder verübt seine Tat ausgerechnet vor dem Altar? Und wer raubt seinem Opfer die Augen?
Nachdenklich ging die Erzieherin die Treppe hinunter. Sie erschrak, als der Diener Rodrigo aus einer Seitentür kam und lautlos vor ihr stand.
„Möchten Sie etwas essen, Carlotta?“
„O ja, gern. Ich bin hungrig.“
Er führte sie in einen kleinen Raum, von dem aus sie in den Park hinaussehen konnte. Auf dem einfachen Tisch lag eine Zeitung mit der Schlagzeile: „Der Mörder, der die Augen stahl!“
Sie setzte sich und las den Bericht durch. Danach wußte sie nur, daß kein Sexualverbrechen vorlag. Im gerichtsmedizinischen Institut von Florenz war festgestellt worden, daß Maria Petrarca noch unberührt gewesen war. Die Polizei stand offenbar vor einem Rätsel.
Maria Rossetti, die ihrem Mann Rodrigo seltsam ähnlich sah, brachte das Essen herein. Sie war rundlich und hatte kurze Beine. Ihr volles Gesicht strahlte Wohlwollen aus, und die flinken Augen schienen ständig jeden Winkel des Raumes zu überprüfen.
„Essen Sie nur, Signorina“, sagte sie mit heiserer Stimme. „Kümmern Sie sich nicht um diese Mordgeschichte, es wird alles maßlos aufgebauscht.“
„Aber immerhin ist ein Mord geschehen.“
„Sie glauben, der Mörder könnte sich ein zweites Opfer suchen?“ Sie winkte ab. „Daran glaubt hier keiner. Warum auch? Wir meinen, daß die Mörder unter der Mafia in Sizilien zu suchen sind. Wer weiß schon, weshalb das Mädchen hierherkam? Sie muß doch einen Grund gehabt haben. So ohne weiteres zieht doch ein anständiges Mädchen nicht in die Fremde. Und hier tat sie zumindest so, als ob sie anständig sei.“
Carlotta antwortete nicht. Was hätte sie auch gegen derartige Vorurteile sagen können? Sie machte sich hungrig über die Speisen her, die die Köchin ihr vorgesetzt hatte.
Julia di Cosimo wachte auf, nachdem sie etwa eine Stunde geschlafen hatte.
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