Fire after Dark - Dunkle Sehnsucht
Die erste Woche
1. Kapitel
Die Stadt raubt mir den Atem. Sie entfaltet sich vor dem Taxifenster, rollt an mir vorbei wie ein gigantisches Bühnenbild, das von einer unsichtbaren Theatermaschinerie bewegt wird. Ich bin im Wageninnern – kühl, ruhig und unberührbar. Nur eine Beobachterin. Aber da draußen, in der stickigen Hitze eines Julinachmittags, bewegt sich London schnell, kraftvoll und unaufhaltsam: Der Verkehr wogt über den Asphalt, und die Menschen drängen sich durch die Straßenfluchten, ganze Horden von ihnen überqueren die Zebrastreifen, wann immer die Ampeln auf Grün schalten. Überall sind Körper, in jeder Form, in jedem Alter, von jeder Größe und Herkunft. Millionen Leben entfalten sich an diesem einen Tag an diesem einen Ort. Das Ausmaß des Ganzen ist überwältigend.
Was habe ich nur getan?
Während wir eine gewaltige Grünfläche umrunden, die von Hunderten Sonnenhungrigen belagert wird, frage ich mich, ob das wohl der Hyde Park ist. Mein Vater hat mir erzählt, der Hyde Park sei größer als Monaco. Das muss man sich mal vorstellen. Monaco mag klein sein, aber trotzdem. Der Gedanke verursacht mir Gänsehaut, und ich merke, wie einen Moment lang Angst in mir aufflackert. Was seltsam ist, denn ich halte mich eigentlich nicht für einen Feigling.
Jeder wäre nervös, sage ich mir nachdrücklich. Aber nach allem, was in letzter Zeit passiert ist, ist es ja kein Wunder, dass mein Selbstbewusstsein in Trümmern liegt. Das vertraute Unwohlsein erhebt sein Haupt, aber ich unterdrücke es entschlossen.
Nicht heute. Ich muss an zu vieles denken. Außerdem habe ich bereits genug gegrübelt und geweint. Das ist ja der Grund, warum ich hier bin.
»Wir sind fast da«, sagt plötzlich eine Stimme, und mir wird klar, dass sie dem Taxifahrer gehört, nur verzerrt durch die Gegensprechanlage. Ich sehe, wie er mich im Rückspiegel beobachtet. »Von hier aus kenne ich eine prima Abkürzung«, meint er, »kein Grund, sich um den Verkehr zu sorgen.«
»Danke«, sage ich, auch wenn ich von einem Londoner Cabbie nichts anderes erwarte. Schließlich sind sie dafür berühmt, jedes Schlupfloch im Straßengewirr der Stadt zu kennen. Darum habe ich mich ja auch entschieden, mir den Luxus einer Taxifahrt zu gönnen, anstatt mich durch die U-Bahn zu kämpfen. Viel Gepäck habe ich zwar nicht dabei, aber mich schreckte die Vorstellung ab, es bei dieser Hitze in die Bahnen zu wuchten, es durch endlose Gänge zu schleppen und damit Rolltreppen hochzufahren.
Ich frage mich, ob der Fahrer mich abschätzt, ob er zu erraten versucht, warum um alles in der Welt ich mich zu so einer edlen Adresse fahren lasse, wo ich doch so unscheinbar und gewöhnlich aussehe, nur eine junge Frau in einem Blümchenkleid, mit roter Strickjacke und Flip-Flops, eine Sonnenbrille auf den Haaren, die zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden sind, aus dem in alle Richtungen Haarsträhnen hervorstehen.
»Zum ersten Mal in London?«, fragt er und lächelt mich im Rückspiegel an.
»Ja, genau«, sage ich, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Ich war als Kind mit meinen Eltern zu Weihnachten hier und erinnere mich verschwommen an die lärmende Umtriebigkeit riesiger Ladengeschäfte, an hell erleuchtete Schaufenster und einen Weihnachtsmann, dessen Nylonhose elektrostatisch aufgeladen knisterte, als ich mich auf sein Knie setzte. Sein weißer Polyesterbart kitzelte mich an der Wange. Aber ich will jetzt nicht lange mit dem Fahrer herumdiskutieren, und die Stadt ist für mich ja auch so gut wie fremd. Ich bin schließlich zum ersten Mal ohne Begleitung hier.
»Sie sind hier ganz allein?«, will er wissen, und ich fühle mich damit nicht wohl, obwohl er nur versucht, freundlich zu sein.
»Nein, ich wohne bei meiner Tante«, lüge ich. Schon wieder.
Er nickt zufrieden. Wir biegen ab und entfernen uns vom Park, fahren mit geübter Geschicklichkeit Slalom zwischen Omnibussen und Autos, vorbei an Radfahrern, kurven zügig um Ecken und preschen bei Tieforange über die Ampeln. Dann lassen wir die geschäftigen Hauptstraßen hinter uns und fahren durch schmale Straßen, gesäumt von mehrstöckigen Backsteinvillen mit hohen Fenstern, glänzenden Eingangstüren, funkelnden schwarzen Eisengittern und üppig blühenden Blumenkästen. Geld und Reichtum sind überall zu spüren, nicht nur angesichts der teuren Limousinen, die am Straßenrand parken, sondern auch an den gepflegten Gebäuden, den sauberen Gehwegen, den
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