0920 - Welt der Stille
befindet, ist immun für das, was draußen geschieht.«
Schmerzlich erinnerte sich Nicole an die Lichtblitze, die im Château Montagne des Jahres 2009 gewütet hatten. Wie hatte Zamorra sie genannt? Zeitbeben? Seiner Erklärung nach handelte es sich bei ihnen um Folgen einer gewaltsamen Veränderung im Ablauf der menschlichen Geschichte, und diese Blitze waren gewissermaßen die Radiergummis der Zeit selbst, die alles entfernten, was aufgrund der Manipulationen nicht mehr passte. Wie zum Beispiel den treuen Butler William…
»Nach meinem Gespräch mit dem Boten des Herrn scharte ich Vertraute um mich«, setzte nun Martinus wieder an, »die ich in meinen Mitbrüdern fand. Und wir wappneten uns für das Kommende?«
»Aber… Wie soll das funktionieren?« Abermals schüttelte Nicole den Kopf. »Wenn auch nur die Hälfte von dem glaubhaft ist, was Ihr da beschreibt, kämpfen wir gewissermaßen tatsächlich gegen die gleiche Sache. Doch eines versichere ich Euch, Martinus: Ich selbst habe gesehen, was die Zeitbeben ausrichten können. Sich einfach im Keller zu verkriechen, wird als Schutz nicht ausreichen.«
Nun schlich sich ein Lächeln auf die Gesichter aller sechs Kuttenträger. Martinus hob die Hände, drehte den Kopf in Richtung des dunklen Ganges, aus dem er gekommen war, und klatschte zweimal laut. Dann sagte er: »Aus eben diesem Grund haben wir noch einen Vorteil in petto.«
Wie aufs Stichwort traten zwei weitere Mönche aus der Finsternis, ebenfalls eher schlichte und gemütlich wirkende Gestalten. Sie trugen eine Art Pritsche, auf der… Nicole glaubte ihren Augen kaum. Konnte das wahr sein? War dies tatsächlich der Mann, von dem der Mönch gesprochen hatte? Der, der ihm angeblich von Gott selbst gesandt worden war, zumindest seiner eigenen Ansicht nach?
Auf der Pritsche lag ein Mann, der älter aussah, als alle, die Nicole Duval je gesehen hatte. Er hatte gut schulterlanges graues Haar, das seinem schlichten Nachthemd in puncto Blässe kaum nachstand, und ein von unzähligen Falten gezeichnetes Gesicht. Der Blick seiner trüben Augen war ins Leere gerichtet, und wenn er überhaupt atmete, dann so flach, dass man es mit dem bloßen Auge gar nicht mehr wahrnahm. Auf eine irrationale, nicht in Worte zu fassende Weise kam er Nicole sogar bekannt vor, auch wenn sie sich keinerlei Reim darauf machen konnte.
»Ist das etwa…?«
»Ganz recht, meine Dame«, sagte Martinus und nickte. »Das ist der, der mir erschienen ist. Der, der unsere Arche vollenden kann. Und Ihr werdet nun Zeuge dessen, was er zu leisten versprochen hat.«
***
Martinus atmete durch. Das Ziel war nahe; bald würde vollendet sein, was ihm als Last auf die Schultern gelegt worden war. Ich gebe mein Bestes, himmlischer Vater , wiederholte er in Gedanken das Mantra, das seine Tage und Nächte seit Wochen begleitete. Und ich hoffe, es genügt. Um unser aller Willen.
Nein, er hatte diese Aufgabe nie gewollt. Sein schlichtes, gottesfürchtiges Klosterleben war nicht das metaphorische Holz, aus dem Propheten oder gar Märtyrer geschnitzt wurden. Aber hatte man Moses gefragt? Abraham? War Jesus selbst vor eine Wahl gestellt worden, als die Nacht über Golgotha hereinbrach und er einer Zukunft entgegenblickte, die er sich nur zu gut ausmalen konnte und die in Schmerz und Tod enden würde? Der Ruf war ein Segen und ein Fluch zugleich, und seit er Martinus ereilt hatte, bemühte sich der Mönch nach Kräften, mit seinen bescheidenen Fähigkeiten zu erreichen, was von ihm verlangt worden war. Er kannte die Prophezeiung und wusste von der schwelenden Gefahr, die die Menschheit schon seit über zehn Jahrhunderten begleitete - aber nur in seinen übelsten Albträumen hätte er sich jemals ausgemalt, dass er es sein würde, in dessen Lebenszeit es fiel, die notwendigen Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die christlichen Lehren sagten, das Leben sei ein Geschenk, doch in den letzten Tagen hatte sich Martinus des Öfteren bei dem sündigen Gedanken erwischt, sich dieses Präsents zu entledigen. Ansonsten, so fürchtete er, zerbrach er noch unter dem Druck.
Die beiden Träger hatten die Mitte der unterirdischen Kammer erreicht und legten die Pritsche mit dem alten Mann sanft ab. Wie schon seit Tagen regte dieser keinen Muskel, und dennoch wusste Martinus, dass er lebte. »Er ruht in sich«, sagte der Mönch leise, als er den fragenden Blick der jungen Frau bemerkte, die seine Brüder hergebracht hatten. »Meditiert. Und das ist etwas, dem auch meine
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