0920 - Welt der Stille
Reaktion - das alles ging auf ihn zurück, auf Dandrono selbst. Irgendetwas war geschehen, dass diesen rätselhaften Teufel dazu gebracht hatte, seine Angelegenheiten schneller zu Ende zu bringen, als er erwartet hatte. Und deshalb hatte sich Dandrono von dem für ihn möglicherweise tatsächlich amüsanten Katz- und-Maus-Spiel mit Einzelpersonen wie Bechtel abgewandt und mit Gutenberg ein weitaus größeres Ziel gefunden.
Er muss Butter bei die Fische tun , dachte der Dämonenjäger. Weil seine Zeit abläuft? Vielleicht, aber wahrscheinlicher ist, dass ihm die Kräfte schwinden. Das beweist schon das Chaos der Zeitbeben. Und ich glaube, ich weiß auch, was ihn so geschwächt hat. Wir!
Bilder ihres Kampfes in Trier schossen Zamorra durch den Kopf. Damals hatten Nicole, der Römer Terticus und er selbst gemeinsam dafür gesorgt, dass Dandrono verschwand. Und offensichtlich hatten sie ihm dabei härter zugesetzt, als der Finstere zugeben wollte. Gut zu wissen, dass auch du Schwachstellen hast. Darauf kann ich aufbauen…
Während ihrer Erlebnisse in Trier war Zamorra dem gefallenen Kaiser Terticus kurzzeitig in die Nebelsphäre gefolgt, aus der Dandrono stammte, und er erinnerte sich, dass er riesige Schemen im dortigen Nebel gesehen und unheimlich fremde Laute gehört hatte. Nun wusste er, worum es sich dabei gehandelt haben musste: um die Titanen.
»Einen Gefallen für Ihre… was?«, griff er das Gespräch noch einmal auf. »Ihre Herren? Ihre Freunde? Was wollen Sie hier überhaupt für die Titanen erreichen? Warum bleiben Sie nicht einfach alle dort, wo Sie waren? In der Nebelsphäre.«
Das entlockte dem Finsteren tatsächlich eine Reaktion. Er kicherte hämisch. Dann hob er die berobten Arme und deutete um sich. »Weil es in der Natur jedes lebenden und atmenden Wesens liegt, sich auszubreiten und sich zu nehmen, was immer es bekommen kann«, sagte Dandrono. »Wie Ihre eigene Geschichtsschreibung nur zu gut belegt, mein lieber Professor, ist der Drang nach Expansion eine Kerneigenschaft auch Ihrer Spezies. Also kreiden Sie sie mir und den Meinen nicht an, das wäre doch zu scheinheilig. Wie heißt es bei Ihnen so treffend? Gelegenheit macht Diebe.«
***
Es war spät geworden, und er war noch immer nicht aufgetaucht. Seit einer halben Stunde schon stand Josephine Becker in den stetig wachsenden Schatten der St.-Christoph-Kirche und wartete auf ihren Verlobten Heinrich Delorme, der bei Meister Gensfleisch in der Lehre war. Doch Heini kam einfach nicht aus der Werkstatt heraus, in der noch immer Licht brannte, wie sie an den erleuchteten Fenstern sehen konnte.
Die Winzertochter begann, sich Sorgen zu machen. Immerhin war Gensfleisch in ihren Augen ein versoffener alter Nichtsnutz, der kein Bein mehr auf den Boden bekam und nach dem gesellschaftlichen nun auch noch auf den sozialen Ruin zusteuerte. Wer wusste schon, wie er da mit seinem einzigen Angestellten umging? Was, wenn Heini etwas zugestoßen war?
»Wenn mein Vater wüsste, dass ich deinetwegen hier stehe und mir Gedanken mache, würde er mich enterben«, murmelte Josephine leise und seufzte. Ihr alter Herr hatte ihr mehrfach und unmissverständlich deutlich gemacht, was er von der Beziehung hielt, die Josi mit dem jungen Delorme eingegangen war. Ja, er hatte Heini sogar einmal vom Hof gejagt, als dieser sich ihm vorstellen wollte. Doch Heinrich und sie liebten sich einfach - innig und aufrichtig. Was waren schon Standesunterschiede, wenn es um die Liebe ging? Gut, sie mochten unkonventionell vorgehen, aber die Gefühle, die sie füreinander hegten, waren schlicht zu stark, um sie ignorieren zu können.
Die junge Frau atmete einmal durch, strich sich die Kleider glatt und ordnete sich das dichte, braune Haar. Dann gab sie sich einen Ruck und trat aus den Schatten, ging auf die Tür von Gutenbergs Werkstatt zu.
Sie klopfte drei Mal, laut und kräftig, um auch ja gehört zu werden - doch eine Reaktion blieb aus. Nichts regte sich hinter der hölzernen Pforte, kein Laut drang durch die Bretter. Dabei wusste sie doch, dass jemand da war. Jeder konnte das sehen!
Josephines Besorgnis wuchs. Alle anerzogenen Regeln des Anstands über Bord werfend, griff sie nach der Klinke, öffnete die Tür und trat in den dahinter liegenden Raum.
***
Das war… falsch.
Sie konnte den Gedanken nicht greifen, nicht benennen, und doch war er da und erfüllte sie mit einer Gewissheit, die unumstößlich war. Was dort geschah, war nicht rechtens. Vielleicht sogar nicht
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