0930 - Das Stigma
Dächer hinweg und sah auch den Turm der Kirche, wie er in den allmählich heller werdenden Himmel ragte, als wollte er als erster die Helligkeit des neuen Tages empfangen.
Ich kannte die Kirche. Ich kannte auch den Ort, wo der Körper des Engels lag.
Körper des Engels?
Es war ein Gedanke, nicht mehr und auch nichts Besonderes, aber ich hakte mich daran fest.
Noch einmal. Der Körper des Engels.
Er lag in dieser ungewöhnlichen Gruft, und er lag schon einige Zeit dort.
Ein Toter, einer der in dieser Zeitspanne eigentlich hätte verwest sein müssen.
Doniel aber war nicht verwest. Ich hatte mich selbst davon überzeugen können, und erst jetzt kam ich dazu, über dieses Phänomen nachzudenken. Die Tat lag schon einige Jahre zurück. Staub, Asche, Knochenreste, all das hätte von ihm zurückbleiben müssen, doch geschehen war einfach nichts.
Es ging mir verdammt gegen den Strich. Ich spürte die berühmten Schmetterlinge oder auch das Brennen im Bauch, und ich dachte daran, daß der Spiegel vielleicht nicht mehr so wichtig war. Wenn ich Marcia finden wollte, dann nicht in seiner Fläche, sondern woanders, zum Beispiel in der Kirche, am Ort ihrer Tat.
Dieser Gedanke brannte sich in mir fest, und ich verlor jetzt keine Sekunde mehr. Mit eiligen Schritten verließ ich das Zimmer und wenig später auch das Haus…
***
Vertrieb in vielen Städten der Beginn der Morgendämmerung auch die Stille der Nacht, so war es hier in Aldroni ganz anders. Die Stille der vergangenen Stunden war geblieben, und ich kam mir fast wie ein Störenfried vor in der schon fast heiligen Stille des Ortes.
Auch diesmal traf ich keinen Menschen. Alexa Tardi ließ sich ebenfalls nicht blicken, aber ich mußte an ihrem Haus vorbei, um die Kirche so rasch wie möglich zu erreichen.
Ob es der Zufall war oder ob sie auf mich gewartet hatte, ich wußte es nicht, jedenfalls erschien sie aus dem Schatten des Hauses und zwang mich, stehenzubleiben.
»Du suchst sie, nicht wahr?«
Ich nickte, bevor ich fragte: »Hast du sie gesehen?«
»Nein, aber ich kann sie spüren. Es hat sich etwas verändert, das weiß ich.«
»So denke ich auch.«
»Du willst in die Kirche gehen?«
»Ja.«
»Sehr gut. Ich glaube fest daran, daß sich Marcia dort aufhält. Ich kann es fühlen. Es ist die Stunde der Entscheidung auch für unseren kleinen Ort hier.« Sie schaute mich starr an. »Deshalb hoffe ich für uns alle, daß Sie es schaffen, uns den Druck zu nehmen. Wir haben uns nicht getraut, wir haben mit dem Toten gelebt. Bitte…«
»Ich werde es versuchen.« Lange genug hatte ich mich bei Alexa Tardi aufgehalten, wandte mich von ihr ab und ließ sie stehen, während ich meinem Ziel entgegeneilte. Die Hälfte der Strecke lag hinter mir, und die Fassaden der Häuser in meiner Umgebung waren nicht mehr so dunkel wie in der Nacht. Sie begannen sich aufzuhellen, da man ihnen die Finsternis genommen hatte, und ich sah die weiße Farbe schimmern, zumindest nahe der Dächer, wohin das erste Licht des Tages zuerst drang.
Der kleine Kirchhof lag leer vor mir. Die Tür war geschlossen. Da sie in einer schmalen Nische lag, auch schlecht zu erkennen. Ich drückte die Klinke nach unten, hörte das gleiche Geräusch wie schon einmal und betrat das Gotteshaus, in dem alles begonnen hatte und möglicherweise auch enden würde.
Die Tür fiel hinter mir nicht ins Schloß. Sie blieb beinahe zur Hälfte offen.
Noch hatte das Licht des Tages die Fenster zu beiden Seiten der Kirche nicht erreicht. Es war beinahe so finster wie in der Nacht. Die dunklen Bänke flankierten mich, als ich durch den Mittelgang schritt. Die helle Decke auf dem Alter schimmerte wie ein kleines Leichentuch. Noch immer brannte die Kerze. Ihr Licht flackerte. Es erinnerte mich an eine verlorene Seele, die unterwegs war, ihre Heimat zu finden, sich aber verirrt hatte.
Marcia Morana sah ich nicht, obwohl ich die Dunkelheit in der Kirche zerstörte und mit meiner Lampe umherleuchtete. Sie glitt über das Holz der Bänke, die Wände und berührte den kalten Steinboden, aber sie holte kein lebendiges Wesen aus der Finsternis hervor.
Ich passierte den Altar. Die Hoffnung, Marcia zu finden, hatte ich nicht aufgegeben. Ich rief auch nicht nach ihr, sondern öffnete die Tür der Sakristei.
Der Geruch hatte sich gehalten, und auch die Luke, dieser Einstieg nach unten, war noch zu sehen.
Nur eben Marcia nicht!
Der Lampenstrahl wehte durch die Dunkelheit der Sakristei, glitt an den Wänden entlang, ließ die
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