0930 - Das Stigma
weiße Farbe noch weißer werden, dann richtete ich ihn nach unten, so daß er durch die Luke glitt.
Ich stand noch zu weit weg, als ich das Stöhnen aus der Tiefe hörte. Es war ein schlimmes Geräusch, als hätte man einen lebendigen Menschen in ein Grab gesteckt, um ihn dort in seiner Seelenqual allein und letztendlich verrotten zu lassen.
Ich leuchtete in die Tiefe.
Marcia saß gekrümmt auf dem Boden, direkt neben dem Körper des Engels, der nicht verwest war. Wieder hielt sie den Kopf gesenkt und beide Hände gegen ihr Gesicht gepreßt.
Die Laute, die aus ihrem Mund drangen, taten mir in der Seele weh. Ich wollte und mußte ihr Hoffnung geben, deshalb sprach ich sie auch mit halblauter Stimme an.
»Marcia…?«
Sie rührte sich nicht.
»Bitte, Marcia. Ich bin es - John!«
Diese Anrede hatte gefruchtet. Sie bewegte sich. Ihre Hände sanken nach unten, zugleich hob sie den Kopf an und drehte ihn mir zu, so daß ich in ihr Gesicht sehen konnte.
Es verschwamm in der Dunkelheit. Ich mußte es direkt anleuchten, um den Beweis zu bekommen.
Vom Haaransatz bis hin zu den Augenbrauen zeichnete sich das blutige Kreuz ab - ihr Stigma der Rache!
***
Keiner von uns sprach, aber ich wollte auch nicht am Rand der Luke stehenbleiben, bückte mich und sprang in die Tiefe. Vor Marcia prallte ich auf, die meine Bewegungen wohl verfolgt hatte, aber nicht reagierte.
Sie blieb starr sitzen, und ich konnte auf das Kreuz in ihrem Gesicht schauen.
Was man ihr getan oder angetan hatte, wußte ich nicht. Wichtig aber war, daß sie noch lebte und der Geist des Engels oder wer immer es war, seine Rache noch nicht hatte beenden können.
Oder wollte er den letzten Schritt noch gehen?
Marcia konnte mir die Antwort geben. Zuvor mußte ich sie zum Sprechen bringen.
»Erkennst du mich, Marcia? Weißt du, wer zu dir gekommen ist?« Da sie saß, hatte ich mich gekniet und streckte ihr meinen Arm entgegen. Dann berührte ich sie mit der Hand, und ich sah auch, wie sie leicht zusammenzuckte.
Sie hatte mich also bemerkt.
Ich ließ meine Hand auf ihrer Schulter liegen. Plötzlich bewegte sie ihren Arm, dann umklammerte sie mein Handgelenk, und ihre Hand war beinahe so kalt wie die einer Leiche. »Du bist gekommen, John! Du hast mich nicht im Stich gelassen. Du mußtest kommen, ebenso wie ich wieder hierherkommen mußte. Ich habe es dir nie erzählt, aber jetzt möchte ich es dir sagen. Es ist mein schlechtes Gewissen, das dafür sorgte. Ich hätte so nicht mehr weiterleben können. Ich habe viele Menschen geheilt, habe ihnen geholfen, aber für mich selbst ist der Preis zu hoch gewesen. Ich bin als Büßerin gekommen, und ich habe auch damit gerechnet, daß man mich nicht vergaß. Man hat mich nicht vergessen.«
»Was ist passiert?«
»Der Spiegel hat mich geholt. Es war eine kalte Welt. Ich habe sie bewußt erleben können. Ich bin durch ein Fegfeuer gegangen, wie auch immer. Es war schrecklich, ich habe Qualen erleiden müssen. Nicht körperliche, sondern seelische, und man hat mich gezeichnet. Ich weiß nicht, wer es getan hat. Es war wohl die Welt der Engel, die nichts Böses tun können, die mich aber nicht verstanden haben. Ich werde nicht sterben«, flüsterte sie, »aber ich werde das Zeichen der Mörderin nicht los. Dieses Stigma wird auf meiner Stirn bleiben. Ein blutiges Kreuz, ein trauriges Kreuz, kein strahlendes, das von einem Sieg kündet, sondern das Kreuz des Blutes, analog zu dem Engelsblut, das ich mir genommen habe, um die Menschen damit zu heilen.«
»Das sagst du richtig, Marcia«, flüsterte ich. »Du hast damit geheilt, du hast damit Gutes getan, das müssen auch die anderen akzeptiert haben, die dir eine derartige Strafe zudachten.«
»Ja, sie wissen es.«
»Und?«
Ihr Lachen klang bitter. »Deshalb haben Sie mich am Leben gelassen. Noch am Leben gelassen. Das Blutkreuz auf meinem Gesicht zeigt mir, wem ich letztendlich gehöre. Ich bin eine Gefangene dieser Engel. Ich kann mich auch weiterhin um die vorletzten Menschen kümmern, aber ich werde durch das Zeichen immer daran erinnert, daß ich eine Rache an einem Falschen durchgeführt habe und nun ihre Rache in Kauf nehmen muß, die so ganz anders aussieht. Sie haben mich aus ihrer Welt entlassen«, sagte sie nach mehrmaligem Luftholen, »aber ich weiß nicht, ob ich es in meiner vertrauten Umgebung besser getroffen hatte. Sterben lassen wollen sie mich nicht, das steht fest. Aber sie halten mich unter Kontrolle, so daß ich immer an meine Tat erinnert
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