0940 - Gipfel der Macht
verstehen, denn was - besser gesagt wer - jetzt direkt vor ihnen stand, wollte sein Verstand einfach nicht als Realität annehmen.
Das musste ein Traum sein, doch Starless war hellwach.
Vor den Vampiren stand Tan Morano - ein junger Tan Morano!
Er war splitternackt, was es Starless leicht machte, die Kondition zu definieren, in der sich der Herr über alle Vampire befand. Das Ergebnis war über alle Maßen erstaunlich. Niemand, wirklich niemand, hätte Morano für älter als 35, höchstens 38 geschätzt - er war schlank, beinahe schon als hager zu bezeichnen, doch an den richtigen Stellen waren seine Muskelpakete nicht zu übersehen. Er wirkte wie ein austrainierter Sportler; seine langen Haare leuchteten in einem tiefen Schwarz - keine Spur von grauen Strähnen, erst recht keine von Falten in seinem Gesicht. Als Starless ihn zum letzten Mal gesehen hatte, wirkte Morano wie ein Greis, doch der schien in einen Jungbrunnen gefallen zu sein und lange darin gebadet zu haben.
Doch das war längst nicht alles, was Starless und Sinje-Li zu sehen bekamen.
Der Vampir hätte geschworen, dass es nichts mehr geben könnte, das ihn aus der Fassung bringen würde, doch ein solcher Eid wäre bei diesem Anblick zum Meineid geworden. Starless fiel einfach nichts ein, was mit dem hier vergleichbar gewesen wäre: Moranos Haut schimmerte in einem hellen Blau - vergleichbar mit dem kühlen Blau des ewigen Eises, dessen Anblick frösteln ließ. Starless war erinnert an alte Kinoplakate oder Comiczeichnungen, die künstliche Wesen zeigten, deren Körper mit einer unzerstörbaren Schicht überzogen waren. Ein irrer Vergleich, doch ein besserer wollte dem Vampir nicht in den Sinn kommen.
Doch dies hier war keine Auflage, keine schützende Beschichtung - die Haut des uralten Vampirs hatte sich in dieser merkwürdigen Form verändert. Noch konnte Starless sich keinen Reim darauf machen, doch dann hörte er Sinje-Lis Aufschrei; sie hatte entdeckt, was Starless bislang verborgen geblieben war, weil er frontal zu Morano stand. Als der sich um die eigene Achse zu drehen begann, um das gesamte Chaos um ihn herum in Augenschein zu nehmen, konnte Starless es sehen.
Ihn sehen!
Der Hals unter Tan Moranos rechtem Ohr war hinunter bis zum Schlüsselbein so weit transparent, dass man das Schimmern des Kristalls deutlich sehen konnte.
Der Machtkristall und Morano waren eins!
Der Dhyarra der 13. Ordnung hatte sich fest mit dem Körper des Vampirs verbunden.
Die Gedanken in Starless' Kopf wirbelten durcheinander. Morano hatte etwas gewagt, vor dem sicher selbst die alten ERHABENEN zurückgeschreckt wären. Eine Symbiose, die schrecklich und zugleich unglaublich machtvoll erschien.
War der Dhyarra nun Vampir oder war der Vampir nun Dhyarra geworden?
Starless war viel zu verwirrt von diesem Anblick, um die Sinnlosigkeit dieser Frage zu begreifen. Mehrfach setzte er zum Sprechen an, wollte Tan Morano fragen - fragen nach dem Wie dem Warum, doch Morano löste Starless' Problem. Er blickte zu seinen Untergebenen, die ihm in den vergangenen Monaten näher als alle anderen gekommen waren.
Mehr noch - ohne Starless und Sinje-Li würde er wahrscheinlich nicht mehr existieren, darüber war Morano sich klar. Gesagt hätte er es ihnen jedoch niemals. Er war der Herr über das Nachtvolk, schlimm genug, dass die beiden ihn in seinen schwächsten Momenten so intensiv erlebt hatten.
»Alles ist zu Schutt und Asche zerfallen, nichts konnte der Kraft des Machtkristalls die Stirn bieten - nichts und niemand. Nur ich.« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Seine Nacktheit schien ihn in keiner Weise zu stören. Er war nun nicht mehr an irgendwelche Regeln gebunden, an keine Vorschriften und prüdes Denken.
Instinktiv griff Morano mit der linken Hand nach seinem Hals. Das schwache Funkeln des Sternensteines wurde intensiver. Starless konnte es nicht fassen. Sie kommunizieren miteinander, wie es ein Parasit und sein Träger tun würden…
Moranos Lächeln schien eingefroren zu sein - eiskalt, so wie die Färbung seiner Haut.
»Es gab nur diesen einen Weg, denn der Kristall hätte mich sonst ganz langsam umgebracht, schleichend, wie ein Gift, von dem man jeden Tag nur einen Tropfen zu sich nimmt. Das Ende war schon viel näher, als ich es selbst geglaubt hatte. Doch jetzt, meine Kinder der Nacht…« Der Machtkristall leuchtete hell unter Moranos Haut auf. »… jetzt kann uns niemand mehr stoppen. Wenn wir wollen, dann nehmen wir selbst die Hölle im
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