0950 - Ein Gruß aus der Hölle
licht gewordene Unterholz. Auf den Gräbern lag das Herbstlaub als eine dichte, fest gefrorene Schicht.
Die beiden Freundinnen passierten ein Wasserbecken. Grünlich schimmerte die dicke Eisschicht darauf. Die Leichenhalle und die kleine Kirche mit dem relativ hohen Turm waren hinter den Bäumen nicht mehr zu sehen.
»Ist es denn noch weit?« Marion konnte kaum sprechen, so sehr fror sie plötzlich.
»Nein, nicht mehr.«
»Und was geschieht jetzt?«
»Warum willst du das wissen?« fragte Caroline.
»Weil ich mich fürchte. Ich mag keine Friedhöfe. Ich habe Angst vor ihnen!«
Caroline mußte lachen. »Angst vor dem Friedhof oder vor den Toten, die dort liegen?«
»Nein, vor dem Friedhof. Die Toten können einem ja nichts mehr tun, denke ich.«
Caroline lächelte wissend und wiegte dabei den Kopf. Aber sie gab keine Antwort, und dies wiederum veranlaßte Marion dazu, über sich und ihre Freundin nachzudenken.
Caro war ganz anders.
Sie war kalt. Vor ihrem Mund stand kein Atem. Ihre Haut sah auch so seltsam aus. Nicht wie die eines Mädchens, sondern eher wie die einer Puppe. Glatt und ohne Falten. Dabei hatte jeder Mensch Falten, auch ein junger, wie Marion wußte.
Nur Caroline hatte keine.
Caro hatte den Blick bemerkt, den ihr Marion zugeworfen hatte. Sie lächelte nur, ansonsten hielt sie sich zurück. Sie wollte keine Informationen geben.
Der Weg, den die beiden entlanggingen, verengte sich etwas. Im Sommer war er sicherlich so gut wie zugewachsen, doch jetzt, im Winter, wo sich das Gesträuch zu Boden neigte und die Blätter verloren hatte, da wirkte alles etwas lichter und weiter.
Marion hatte sich in ihrem Alter nie mit dem Tod beschäftigt. Jetzt wurde sie ständig damit konfrontiert. Sie sah die Gräber und dachte daran, daß darunter die Menschen lagen, die einmal gelebt hatten.
»Wer bist du nur?« flüsterte Marion. Sie hatte aber mehr zu sich selbst gesprochen, doch Caroline hatte die Worte gehört.
»Eine Freundin…«
»Ach?«
»Eine wirkliche Freundin«, wiederholte Caroline. »Wäre ich nicht gewesen, dann würdest du jetzt nicht hier herumlaufen.«
»Wieso nicht?«
»Laß es.«
»Nein, ich möchte es wissen.«
»Später, Marion, wirklich später. Ich möchte nicht, daß es dir so ergeht wie mir.«
»Wie ist es dir denn ergangen?«
Caro drehte nur den Kopf nach links und schaute Marion aus dunklen Augen an.
Da schwieg das blonde Mädchen, denn es hatte diesen Blick wie einen Befehl wahrgenommen. Marion wußte, daß nichts mehr so werden würde, wie es bisher gewesen war. Sie hatte sich eigentlich schon darauf vorbereiten können, denn der Spiegel in ihrem Zimmer hatte bereits die Wende gebracht. Seit er dort an der Wand hing, war einiges nicht mehr so wie sonst. Zwar war die Einrichtung noch dieselbe geblieben, doch innerhalb dieser Wände hatte sich ein Fluidum ausgebreitet, mit dem Marion nicht zurechtgekommen war.
Okay, sie war auch jetzt noch allein, aber sie hatte sich immer beobachtet gefühlt, als lauerten irgendwelche Wesen im Unsichtbaren oder auch hinter dem Spiegel versteckt.
So war es dann auch gewesen.
Sie hatte Stimmen gehört, Nein, eine Stimme nur, auch wenn sie erst anders darüber gedacht hatte.
Eben Carolines Stimme, und sie war damit nicht zurechtgekommen. Sie hatte es ihrer Mutter erzählt und sich über deren Erschrecken gewundert. Sie schien gewußt zu haben, was sich in dem Spiegel verbarg, ohne darüber sprechen zu wollen.
Und dann war Caroline erschienen. Die geheimnisvolle Stimme hatte plötzlich einen Körper bekommen, der nun neben Marion herging und sich so seltsam benahm. Ungewöhnlich und…
»Da, da ist es…«
Carolines Stimme hatte Marion aus ihren Gedanken gerissen. Sie blieb stehen und schaute zu, wie ihre Freundin den Arm hob und dorthin deutete, wo die Büsche ziemlich dicht standen. Ineinander verkrallt und versiegelt vom Eis, das bis zum Tauwetter Bestand haben würde.
»Dort…« hauchte Marion.
»Ja, komm mit.«
Die blonde Marion fror noch stärker. Selbst das kalte Gestell der Brille störte sie. Es schien auf ihrer Haut zu kleben. Niemand befand sich in ihrer Nähe, sie waren unbeobachtet und konnten ungehindert auf eine Grabstätte zugehen, die wegen der hohen Büsche im Schatten lag.
Es war ein großes Grab. Allerdings etwas ungepflegt. Die Kantsteine waren von Bodendeckern überwuchert. Der innere Umriß des Grabes sah aus, als wäre dunkelbraunes Wasser in Wellen festgefroren, zu einem harten Teppich erstarrt.
An der
Weitere Kostenlose Bücher