0959 - Asmodis’ Hölle
Onda, die Oberste der Priesterinnen von Avalon, beobachtete gespannt die riesige, tiefschwarze Teufelgestalt. Schon seit vielen Stunden saß der Dämon mit gekrümmtem Rücken und hängendem Kopf am Ufer des nicht weit entfernt liegenden Sees; genau gegenüber dem Wasserfall, der aus großer Höhe über steile, zerfurchte, von Bäumen und Büschen bewachsene Felsen fiel und dessen Gischt für einen wunderschönen, in allen möglichen Farben schimmernden Regenbogen sorgte. Onda wusste aus der Erfahrung der letzten Wochen, dass sie Asmodis jetzt besser nicht störte. Der Teuflische war wieder dabei, zu grübeln und sich innerlich selbst zu zerfleischen und dabei wollte er gefälligst nicht gestört werden. Manchmal war sich Onda nicht sicher, ob es sich bei Asmodis um einen noch Lebenden oder einen bereits Toten handelte.
Plötzlich kam Bewegung in Asmodis. Er richtete den Oberkörper auf und drehte den Kopf um 180 Grad. »Komm ruhig zu mir, Onda«, sagte er. »Ich spüre deine Anwesenheit schon seit einigen Minuten.«
Onda, in der sich Reife und Schönheit zu einer perfekten Mischung zusammenfanden, trat einen Schritt aus dem Schatten des Baums, in dem sie die ganze Zeit verharrt hatte. Zwei winzig kleine bunte Vögel fanden sichtlich Spaß daran, mit dem knielangen Zopf zu spielen, zu dem sie ihre weizengoldenen Haare zusammengebunden hatte. »Ich wollte dich nicht stören, Asmodis«, murmelte sie.
»Du störst mich nicht, Priesterin. Würde ich dich sonst zu mir bitten? Komm einfach her. Deine Gesellschaft ist mir angenehm. Ich möchte gerne wieder mal ein bisschen mit dir plaudern.«
Onda kam mit festen Schritten näher. Das prächtige, purpurrote Gewand, das von Brokat und Goldfäden gesäumt war und ihren wunderschönen, schlanken Körper trotz der Schwere des Stoffs vollendet zur Geltung brachte, drückte das knöchelhohe Gras nieder, das hier überall wuchs, und hinterließ eine kleine Schleif spur. Neben dem Dämon blieb sie stehen. Obwohl er saß, überragte er sie noch um ein Weniges.
»Setz dich, Onda.«
Die Priesterin nickte. Ihre zusammengelegten Hände mit den golden leuchtenden Fingernägeln beschrieben einen Halbkreis vor ihrer Brust. Auf dem Boden flimmerte es. Ein glatt geschliffener, halbrunder, perfekt zum Sitzen geeigneter Stein schälte sich aus dem Flimmern. Onda lächelte und folgte dann der Aufforderung des Dämons. Mit anmutigen Bewegungen ließ sie sich auf dem Stein nieder.
Rot glühende Augen, in denen kleine Feuerräder unablässig kreisten, musterten die Priesterin aus einem mit faltiger Lederhaut überzogenen Bocksgesicht, dessen Stirn zwei mächtige Hörner zierten. Ein normaler Mensch hätte diesen Anblick kaum überlebt, Onda hingegen machte er nicht das Geringste aus. Die Priesterin war Anderes gewöhnt. Wenn Asmodis' Anblick etwas in ihr auslöste, dann am ehesten noch Mitleid. Wie war es, wenn man seine ganze Familie, sein Volk, ja seine ganze Welt verlor und sich allein daran schuldig fühlte? Sie konnte es sicher nicht einmal im Ansatz nachempfinden und wollte es auch gar nicht.
»Duldet mich die Herrin vom See noch immer hier? Oder ist meine Aufenthaltsgenehmigung zwischenzeitlich abgelaufen?« In dem faltigen Gesicht bewegte sich etwas, einige Linien und Furchen verschoben sich gegeneinander. Onda deutete es als Versuch eines Lächelns.
»Ich habe nichts anderes gehört, Teufel.«
Asmodis nickte kurz, hielt dann aber fast erschrocken inne. Ein Anflug von Hass und Zorn huschte durch sein Gesicht. Onda wusste diesen Gefühlsausbruch inzwischen zu deuten. Der ehemalige Höllenfürst hatte ihr unglaubliche Geschichten erzählt. Danach waren Menschen und Dämonen der Schwefelklüfte Verwandte, weil beide Rassen einst von LUZIFER persönlich geschaffen worden waren. Die Menschen allerdings sollten dem ehemaligen HÖLLENKAISER ähnlicher als die Dämonen und die Lieblinge seiner Schöpfung sein, während die Schwarzblütigen aus den Albträumen dieses ganz und gar unbegreiflichen Wesens entstanden waren. Seit er das wusste oder zu wissen glaubte, hasste Asmodis das Menschengeschlecht zutiefst. Und er hasste es noch mehr, wenn er sich menschlicher Verhaltensweisen oder Gesten bediente; diese abzulegen war allerdings äußerst schwierig, wenn man sich viele Jahrhunderte immer wieder als Mensch unter Menschen bewegt hatte.
Onda wusste nicht, ob sie das alles, was sie hörte, wirklich glauben konnte. Immerhin schien es wohl eine Tatsache zu sein, dass es die Schwefelklüfte
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