096 - Die Gräfin von Ascot
Menschen und alle Orte sehr gut zu kennen, nahm ihn Morlay nicht ernst. »Ich kenne die ganzen alteingesessenen Familien hier«, erklärte der Inspektor, »aber es sind auch viele neue Villen in der Gegend gebaut worden. Die Leute ziehen ein und ziehen aus. Die junge Gräfin Fioli zum Beispiel kenne ich noch nicht -« »Gräfin Fioli!«
Der Wagen geriet einen Augenblick ins Schleudern, denn Mr. Morlays innere Erregung übertrug sich auf das Steuer. »Ach, ich kenne sie - oberflächlich.«
»Trotzdem sollten Sie vernünftig fahren. Sie sind ja eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit«, erwiderte Peas vorwurfsvoll. »Mir kann so etwas nicht passieren. Ich bleibe vollkommen ruhig und kaltblütig, wenn ich am Steuer sitze. Selbst wenn ein Kerl seitlich aus den Büschen springt und mir ein Schießeisen entgegenhält, zucke ich nicht mit der Wimper -« »Hören Sie doch endlich auf, nur von sich selbst zu reden, Peas. Ist die Gräfin Fioli die Inhaberin der neuen Villa dort drüben?« Der Inspektor nickte.
»Sie kommt direkt vom Internat - geht mitten im Jahr ab, eigentlich ein schlechtes Zeichen. Schulen und Pensionate lieben das nicht. Nächste Woche kommt sie hierher. Ihr Vormund oder ihre Erzieherin hat das Haus gekauft, das ist alles, was man weiß. Wieder eine neue Gelegenheit, die sich die Diebe nicht entgehen lassen werden. Es wird nicht lange dauern, bis dort eingebrochen wird, und dann nimmt man natürlich wieder die Intelligenz von Scotland Yard in Anspruch.« »Damit meinen Sie doch sich selbst?«
»Wen denn sonst? Nennen Sie mir drei Männer in Europa, die meinen Verstand besitzen oder mir in bezug auf kriminalistische Fähigkeiten auch nur das Wasser reichen können«, erwiderte Peas selbstzufrieden.
2
Manchmal kamen argwöhnische Leute in Morlays Büro, und gewöhnlich hatten sie auch allen Grund, an der Redlichkeit ihrer Mitmenschen zu zweifeln. Sie wollten den Inhaber des Detektivinstituts beauftragen, diese verdächtigen Mitmenschen zu beobachten, damit belastendes Material für eine Anzeige beim Staatsanwalt herbeigeschafft werden konnte. Aber mitten in ihrer Erzählung unterbrach Mr. Morlay sie gewöhnlich mit einigen Worten des Bedauerns und erklärte, daß er ihr Ersuchen ablehnen müsse. Das geschah besonders, wenn es sich um mißtrauische Eheleute handelte.
John Morlay war allerdings tatsächlich Inhaber eines Detektivinstituts, aber er hatte sich spezialisiert und bearbeitete nur Handelsauskünfte. Er beobachtete auch Leute und ihre Tätigkeit, aber nur von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr nachmittags, und in dieser Zeit sündigen die meisten Menschen am wenigsten. Er hatte mit Scheinkapitalisten zu tun, die Fabrikanten ruinieren, mit Schwindelgründungen, mit unehrlichen Kaufleuten, mit pflichtvergessenen Kassierern und anderen Angestellten. Seit fünfzig Jahren befaßte sich die Firma mit diesem einträglichen, aber wenig abwechslungsreichen Beruf.
John Morlay saß wieder in seinem Büro, von dem aus er den Hanover Square überschauen konnte, und hatte ganz vergessen, daß es so friedliche, stille Orte wie Ascot gab, wo eine geheimnisvolle junge Gräfin eine Besitzung wie Little Lodge hatte. Selford, ein alter Angestellter, trat in das Privatbüro. »Wollen Sie Mr. Lester sprechen?« fragte er.
Wenn John Morlay gesagt hätte, was er dachte, hätte er die Frage verneint, aber so verzog er nur das Gesicht. »Lassen Sie ihn hereinkommen.«
John Morlay haßte den jungen Mann zwar nicht gerade, da Julian unter Umständen ganz amüsant und unterhaltend sein konnte, aber er zog doch andere Besucher vor. Julian trug etwas zu elegante Anzüge und juwelengeschmückte Manschettenknöpfe; sein Benehmen war reichlich affektiert. Die Perlnadel, mit der er den Schlips zusammenhielt, war etwas zu groß und auffällig. Morlay konnte auch nicht leiden, daß Julian seinen Hut stets so vorsichtig auf den Tisch legte, als ob dieser eine Kostbarkeit wäre. Er sah auf die Uhr, dann auf seinen Notizblock und stellte mit Befriedigung fest, daß er in einer Viertelstunde einen Besuch erwartete und dann Gelegenheit hatte, Julian zu verabschieden.
Lester trat herein und sah wie immer tadellos aus. Kein Stäubchen war auf seinem Jackett zu sehen. Er legte den Hut genauso hin, wie John Morlay es erwartet hatte, und zog dann seine hellen Glacehandschuhe langsam aus. Die beiden waren vollständige Gegensätze: John Morlay schlank, hager, blauäugig und sonnengebräunt; Julian dagegen mehr der Typ eines hübschen
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