0966 - Der Weg des Jägers
ich es versucht habe, dann… dann… konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen.«
Papa lachte humorlos auf. »Aber jetzt geht es wieder, was? Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat meine Angst die Sperre gelöst. Vielleicht heißt das auch, dass es… vorbei ist.«
»Oder dass er bald kommt, um seine Gegenleistung einzufordern!«
Es blieb einen Moment still, dann schluchzte seine Mutter auf und begann zu heulen.
Am liebsten wäre Leon zu Mama gegangen, um sie zu trösten, aber er traute sich nicht. Denn damit hätte er ja zugegeben, dass er lauschte.
»Ich rufe die Polizei!«, sagte Papa. »Die wird dem Kerl einheizen, wenn er hier auftaucht.«
Da schellte es an der Haustür.
Das Klingeln lässt die Szenerie splittern wie einen berstenden Spiegel. Scherben wirbeln umher und setzen sich urplötzlich wieder zu einem Ganzen zusammen. Zu einem anderen Bild. Minuten später.
Durch die schmalen Schlitze zwischen den Lamellen sickerte Licht in die Finsternis des Schranks.
Kleidungsstücke hingen wie leblose Körper auf ihren Bügeln. Der Absatz des Halbschuhs, auf dem er hockte, bohrte sich in Leons Oberschenkel, doch er wagte es nicht, sich zu bewegen. Die muffige Luft kratzte im Hals. Hoffentlich musste er nicht husten!
Er drückte Matthias an sich und spürte das Beben des kleinen Bruders. Noch immer klangen Mamas Worte in seinen Ohren nach.
»Bleibt im Schrank. Kommt nicht raus, egal, was ihr hört!«
Ihre rot verquollenen Augen hatten sich hektisch umgesehen, als erwarte sie, dass jeden Augenblick etwas Furchtbares passieren könnte.
Während er mit Matthias dahockte, spürte Leon immer noch den Druck ihrer Hand im Rücken.
Sie hatte die Jungs in den begehbaren Kleiderschrank geschoben, die Tür geschlossen und war davongeeilt.
Leon hörte das Atmen des Kleinen dicht neben dem rechten Ohr. »Ich hab Angst!«
In diesen Momenten wusste Leon, was er als großer Bruder zu tun hatte, und strich mit der Hand über Matthias' Rücken. »Ich bin bei dir. Wir dürfen bald hier raus.«
Der Kleine schniefte. »Tut… tut mir leid… dass ich… dich wegen des Spiels genervt hab«, stammelte er und presste sich fest an Leons Leib.
»Schon vergessen! Wenn wir draußen sind, kannst du…«
»Bitte lassen Sie uns in Ruhe!«
Mamas Stimme erklang so laut, dass Leon sie sogar im Schrank verstehen konnte.
Unwillkürlich erinnerte er sich ein paar Wochen zurück, als drei Jungs aus der Siebten ihm auf dem Schulhof das Taschengeld hatten klauen wollen. Mit grimmigen Gesichtern hatten sie ihn gegen eine Wand gedrückt. Er hatte vor Angst gezittert und sie angefleht, sie sollen ihm nichts tun, doch sie hatten nur gelacht und ihn erst losgelassen, als die Pausenaufsicht näherkam.
Die gleiche Panik, die er vor den Schlägern empfunden hatte, hörte er nun in Mamas Worten.
Er stöhnte auf und presste Matthias noch fester an sich, fühlte, wie dessen hagerer Körper im Weinkrampf zuckte.
Was geschah da unten nur?
Da ertönte eine fremde, tiefe Männerstimme. Der Besucher, der vorhin geklingelt hatte. Im Gegensatz zu Mama und Papa sprach er so leise und besonnen, dass Leon nicht verstand, was er sagte.
Plötzlich brüllte Papa los. »Sie haben die Verzweiflung meiner Frau ausgenutzt, Sie elender Scheißkerl.«
Solche Worte hatte Leon aus Papas Mund noch nie gehört.
Er musste wissen, was da unten vor sich ging. Er versuchte aufzustehen, doch die Ärmchen des kleinen Bruders ließen ihn nicht los.
»Bitte lass mich nicht allein!«
»Ich schleich nur vor die Tür. Du wartest hier auf mich. Ich bin gleich zurück.«
Das Bild zerfällt in unzählige Einzelteile. Splitter umkreisen sich und fügen sich zu einem neuen zusammen.
Leon hockte neben dem schmiedeeisernen Treppengeländer und starrte in die Tiefe. Er war trotz allen Betteins von Matthias aus dem Schrank gestiegen und in den Flur geschlichen.
Sein Blickwinkel war so günstig, dass er einen großen Teil des Wohnzimmers einsehen konnte. Schon oft hatte er spätabends an dieser Stelle gehockt und heimlich ferngesehen, während seine Eltern meinten, er würde schlafen.
Mama und Papa standen neben der Couch und starrten auf den Besucher.
Im ersten Augenblick dachte Leon, den Vampir aus dem Film vor sich zu sehen, den er sich vor Kurzem verbotenerweise angeschaut und der ihn die ganze Nacht wachgehalten hatte. Das pechschwarze Haar reichte ihm bis zu den breiten Schultern. Er trug einen schwarzen Ledermantel, der bei jeder Bewegung
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