0969 - Mandragoros Geschöpf
fühlte sie sich wieder zurückgestuft. Hineingedrängt in ihre Kindheit. Sie war wieder das kleine Mädchen, das auf die Warnungen seiner Eltern nicht gehört hatte und in den Sumpf gegangen war.
Dann war er gekommen.
Er hatte sie gerettet.
Der Mann mit dem bösen Blick.
Und er hatte sie nicht vergessen. Er schien all die Jahre nur auf sie gewartet zu haben. Als wären beide füreinander bestimmt worden. So wurden Märchen wahr.
Sie war durcheinander. Noch schwankte Marion in ihrem Entschluß. Der Druck in ihrem Innern aber verstärkte sich. Die Furcht wuchs einfach nur weiter an.
Auch die Lockung…
Weich war der Boden unter ihren Füßen. Sie rutschte leicht nach vorn. Ein heftiger Schreck durchzuckte sie, und sofort zerrte sie das rechte Bein wieder zurück.
Fast wäre es geschehen.
Marion hob einen Arm und wischte über ihre Augen. Der Blick war nicht mehr so klar. Für sie sah der Sumpf so aus, als hätte sich eine Dunstglocke über ihn gelegt.
Er war sehr flach. Weiter hinten sah sie die natürliche Begrenzung. Dort standen einige Nadelbäume. Niemand wußte, wie sie dort hingekommen waren. Aber auch eine Straße führte da entlang. Die Bauern benutzten sie, wenn sie zu ihren Feldern wollten.
Urplötzlich bewegte sich das Wasser vor ihr und schlug die ersten Wellen. Es sah so aus, als hätte jemand einen Stein dort hineingeworfen, nur war das nicht geschehen. Der Druck, der diese Bewegung veranlaßt hatte, kam aus der Tiefe. Strebte dort etwas an die Oberfläche?
Und es stieg etwas hoch. Die grünen Blätter, das Plankton, all die Algen, sie gerieten in Bewegung und schufen Platz für den, der aus der Tiefe stieg.
ER war es!
Marion fing an zu zittern. Sie hatte ihn noch nicht genau gesehen, aber sie wußte genau, daß nur ER es sein konnte. Sie sah jetzt den kreisrunden Ausschnitt und damit auch die normale, graugrüne Farbe des Wassers, über dessen Oberfläche Wellen plätscherten.
Darunter zeichnete sich bereits der noch dunklere Schatten ab wie ein zerfließendes Gebilde, das allerdings mehr Gestalt annahm, je höher es stieg.
Und dann hatte es plötzlich die Wasserfläche durchbrochen. Marion hörte noch den klatschenden Laut, einen Moment später stieg ER aus der Tiefe.
Zunächst sah sie den haarlosen Schädel, an dem das Wasser entlangrann. Die weit aufgerissenen Augen des Mannes störten sie nicht.
Der böse Blick blieb!
Er war genau auf Marion gerichtet, als hätte Cursano nur sie gesucht und keinen anderen Fixpunkt.
Die Frau bewegte sich nicht. Zwar spürte sie noch den festen Boden unter den Füßen, zugleich kam sie sich vor wie jemand, der kurz davorsteht, einfach wegzufliegen. Einem neuen Ziel entgegen, und sie fieberte der anderen Gestalt entgegen.
Cursano stieg höher. Ihm machte der zähe, ziehende und zugleich schlammige Boden nichts aus. Er verhielt sich so, als gäbe es ihn nicht. Er widerstand der Erdanziehungskraft. Er war einfach da, und er war der Sieger.
Der Sumpf, für andere Menschen ein Feind, war für ihn zu einem Freund geworden.
Sein dunkler Mantel hatte sich mit Wasser vollgesaugt. Auf dem Stoff klebten die Pflanzenreste wie grüne Schuppen, und er blieb erst dann stehen, als ihm das Wasser bis knapp unter die Oberschenkel reichte. Nur sackte er nicht tiefer. Er blieb in dieser Haltung, als wäre er es, der dieses menschenfeindliche Gebiet beherrschte.
Dann hob er den rechten Arm an. Mit seiner Hand winkte er Marion zu. Als er dabei die Finger ausstreckte, da sah es für Marion so aus, als würden sie einfach wachsen und immer länger werden.
Die Spitzen zitterten und bogen sich wie Gummi, und wieder einmal mußte sie feststellen, daß dieser Mensch keine normalen Hände hatte.
Dann sprach er sie an. »Marion…«
Sie konnte nur nicken.
»Du bist gekommen«, sagte Cursano, »ich wußte, daß du kommst, denn du hast mich nicht vergessen. Wer mich einmal erlebt und gesehen hat, dem bleibe ich als tief sitzende Erinnerung erhalten. Bei dir ist es nicht anders gewesen. Schon damals habe ich mich für dich entschieden. Ich habe gespürt, daß wir irgendwann einmal zusammenkommen werden, und so habe ich auf dich gewartet. Denn heute ist der Tag gekommen, an dem ich dich holen werde…«
Marion Kline hatte jedes Wort genau verstanden. Ihr Gehirn hatte es auch analysiert, und sie stellte mit Schrecken fest, daß es sich angehört hatte wie ein perverser Heiratsantrag. Als wollte der Unhold die Schöne heiraten und sie für immer an sich binden.
Cursano
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