Die Rättin
Zu diesem Buch
»Trotz ist ein Grundmotiv dieses Buchs oder anders auch: Selbstbehauptung. Denn Grass' vielgestaltiges Erzählen ist Gegenanerzählen, Predigt, Levitenlesen. Sein Erzähler, dem nur Sprache zu Gebote steht, um sich zur Wehr zu setzen gegen die Untergangsstimmung, die ihn umgibt, muß erzählen und kann nur erzählen, um den Untergang aufzuhalten, von dem ihm die Rättin berichtet. Denn die Rättin ist sein Gegenpart, ist Sprachrohr der Stimmung um ihn herum: durch sie, die im Traum ihm erscheint, redet die menschliche Resignation ihn an, spricht von Hoffnungslosigkeit und von der Vergeblichkeit aller Vernunft. Nacherzählen läßt sich, was Grass in der Rättin alles vorführt, nicht einmal ansatzweise... >Die Rättin< ist ein großes, ein riskantes Buch von Grass es fordert zur Auseinandersetzung mit ihm auf, und es will genau gelesen sein.« (Heinz Ludwig Arnold, »Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt«)
»>Die Rättin< schildert tiefsinnig grüblerisch in scheußlichen Varianten unseren Untergang. In nach-postmoderner Zeit (hoffen wir darauf!) könnte das Buch dereinst als Chronik unserer heutigen (beileibe nicht unbegründeten) kollektiven Ängste dastehen.« (»Neue Zürcher Zeitung«)
Günter Grass, geboren am 16. Oktober 1927 in Danzig als Sohn deutsch-polnischer Eltern, studierte Bildhauerei an den Kunstakademien von Düsseldorf und Berlin und lebte ab 1957 einige Jahre als freier Schriftsteller, Maler, Graphiker und Bildhauer in Paris. 1956 debütierte er mit Gedichten und Prosastücken, die in dem Band »Die Vorzüge der Windhühner« gesammelt sind. Nach mehreren Kurzdramen brachte den Durchbruch zu internationalem Ruhm der Roman »Die Blechtrommel« (1959), der rabelaissche Stoffülle mit einer in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht erlebten, von grotesken Ironien und Paradoxien funkelnden Meisterschaft verband. Seither folgten weitere vielgelesene und vieldiskutierte Romane, Erzählungen, Gedichte, Dramen, Essays, Kommentare und Reden, die Günter Grass als einen der großen Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur bestätigen.
In der Reihe »rowohlts monographien« erschien als Band 359 eine Darstellung Günter Grass' mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten von Heinrich Vormweg, die eine ausführliche Bibliographie enthält.
GÜNTER GRASS
DIE RÄTTIN
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ROWOHLT
Für Ute
71.-85. Tausend Januar 1990
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1988
Copyright © 1986/88 by Hermann Luchterhand Verlag GmbH & Co. KG, Darmstadt und Neuwied Umschlagillustration »Die Rättin von Danzig II«, Radierung von Günter Grass
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
98c-ISBN 3 499 12200 6
D AS ERSTE KAPITEL, indem ein Wunsch in
Erfüllung geht, inNoahs Arche keinPlatz für Ratten ist, vom Menschen nur Müllbleibt, ein Schiff oft seinenNamen wechselt, die Saurier aussterben, ein alter Bekannter auftritt, eine Postkarte einlädt, nach Polen zu reisen, der aufrechte Gang geübt wird und mächtig Stricknadeln klappern.
Auf Weihnachten wünschte ich eine Ratte mir, hoffte ich doch auf Reizwörter für ein Gedicht, das von der Erziehung des Menschen geschlechts handelt. Eigentlich wollte ich über die See, meine baltische Pfütze schreiben; aber das Tier gewann. Mein Wunsch wurde erfüllt. Unterm Christbaum überraschte die Ratte mich. Nicht etwa zur Seite gerückt, nein, von Tannenzweigen überdacht, dem tiefhängenden Baumschmuck zugeordnet, anstelle der Krippe mit dem bekannten Personal, hatte, mehr lang als breit, ein Drahtkäfig Platz gefunden, dessen Gitterstä be weißlackiert sind und dessen Innenraum mit einem hölzer nen Häuschen, der Saugflasche und dem Futternapf möbliert ist. Wie selbstverständlich nahm das Geschenk seinen Ort ein, als gäbe es keinen Vorbehalt, als sei diese Bescherung natürlich: die Ratte unterm Weihnachtsbaum.
Nur mäßige Neugierde, sobald Papier knisterte. Huschig raschelte sie im Streu aus gelockten Hobelspänen. Wie sie nach kurzem Sprung auf ihrem Haus kauerte, spiegelte eine gülden glänzende Kugel das Spiel der Witterhaare. Von Anbeginn war erstaunlich, wie nackt ihr Schwanz lang und daß sie fünffingrig ist wie der Mensch.
Ein sauberes Tier. Hier und dort: nur wenige Rattenköttel kleinfingernagellang. Jener nach altem Rezept hergestellte Heiligabendgeruch, zu dem Kerzenwachs, Tannenduft, ein wenig Verlegenheit und Honigkuchen beitrugen, übertönte die Ausdünstung des
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