0972 - Die Prinzessin von Atlantis
um Schlaf zu finden. Das würde sie niemals schaffen, denn immer wieder würden sich ihre Gedanken um das eben Erlebte drehen.
Shao hatte Durst bekommen. Sie verließ ihren Platz, ging in die Küche und gönnte sich ein Glas Orangensaft. Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster hinaus in die Nacht, wo der blasse Mond fast einen Kreis unter dünnen Wolkenschleiern bildete. Er sah blaß aus, auch kalt, aber er hatte nichts mit ihr und ihren Problemen zu tun.
Sie stellte das Glas wieder weg. Nachdenklich ging sie zurück in den Wohnraum. Das Licht hatte sie nicht eingeschaltet. Nur der Bildschirm strahlte etwas von seiner Helligkeit ab, die auch die Sitzfläche des Stuhls sichtbar machte.
Sie nahm wieder Platz. »Du bist ja noch immer da«, sagte sie, obwohl sie keine Antwort erwarten konnte. »Was ist los mit dir? Willst du nicht weg?«
Schweigen.
Shao hob die Schultern. »Wenn du nicht reden kannst, ist die Sache schon gelaufen, dann kann ich dir auch nicht helfen und nicht erfahren, wer dich geschickt hat.« Eine Sekunde später schwieg sie erschreckt, denn sie hatte die Bewegung hinter der Person gesehen.
Ein großer Schatten glitt in die Szene hinein, und Shaos Interesse wuchs schlagartig.
Es war leicht, den Schatten zu identifizieren. Es war ein Tier, das normalerweise in den Bergen lebte. Ein gewaltiger Weißkopfadler bewegte sich im Hintergrund, zog dort seine Kreise und blieb für einen Moment unbeweglich stehen.
Wie ein Schutz, dachte Shao. Wie ein Wächter, der sie vor Gefahren beschützen will.
Dann war er weg.
Als hätte ihn jemand vom Monitor gelöscht. Ein kurzes Nachzittern noch - vorbei.
Shao verstand immer weniger von dem, was sie mit ihren eigenen Augen sah. Denn auch die Unbekannte blieb nicht länger als Mittelpunkt des Monitors bestehen. Auch ihre Umrisse flimmerten auf, und dann war sie verschwunden.
Shao starrte auf den graugrünen und völlig leeren Schirm. Es tanzte kein Schnee auf der Fläche, und sie schaltete ihren Computer aus. Weil sie damit rechnete, daß sich das Gerät wieder von allein einschalten würde, behielt sie die Schalterleiste im Blickfeld.
Es passierte nichts.
Die Normalität hatte sie wieder, und damit wich auch die Spannung der letzten Minuten. Nein, erschöpft fühlte sich Shao nicht, aber schon ausgelaugt und auch müde. Sie wischte über ihre Stirn.
Der Schweiß, der dort gelegen hatte, war kalt und feucht. Falten gruben sich in die Haut unter den Haaren. Sie dachte scharf nach und wußte plötzlich, daß sie völlig daneben stand.
Nichts war klar. Die Rätsel blieben. Aber wer sollte ihr helfen? Wer konnte es?
Es gab genügend Computer-Experten. Jede Firma kannte ihre Hacker. Shao hätte nur den Kundendienst anzurufen brauchen, aber das brachte wohl nichts. Man würde ihr nicht helfen können, denn der Computer war ja nicht defekt. Er hatte nur nicht so reagiert, wie sie es gewohnt war. Es kam Shao vor, als hätte er ihr jetzt die letzten Geheimnisse preisgegeben.
Nicht ohne Grund. Bestimmt nicht. Es mußte eine Lösung geben, daß ausgerechnet sie dieses Bild gesehen hatte. Nur wer sagte ihr, daß sie die einzige gewesen war?
Auch ein Problem, das es zu lösen galt.
Wieder stand sie auf und spürte die Weichheit in ihren Knien. Das erscheinen der fremden Frau auf dem Monitor war ein erster Hinweis gewesen. Shao ging davon aus, daß sie von dieser Unbekannten noch einiges sehen würde.
Mit diesen Gedanken betrat sie wieder das Schlafzimmer und legte sich hin.
Einschlafen konnte sie trotzdem nicht. Da die Türen offenstanden, lauschte sie immer wieder in den Wohnraum hinein, der in seiner nächtlichen Stille blieb…
***
Als Sheila Conolly gegen die Zimmertür ihres Sohnes klopfte, wußte sie genau, daß sie Johnny störte, aber das nahm sie in Kauf.
Sie hörte kein Come in, öffnete die Tür und zwinkerte für einen kurzen Moment, denn das Licht in diesem Raum glich mehr der Beleuchtung in einer Bar. Ihr Sohn saß vor seinem Computer. Das Licht einer schräg hängenden Lampe reichte ihm völlig aus, um sich auf den Apparat konzentrieren zu können. Und er war so in seine Arbeit vertieft, daß er das Eintreten seiner Mutter nicht gehört hatte.
Mit vor der Brust verschränkten Händen blieb Sheila kurz hinter der Tür stehen. Erst als sie sich hörbar räusperte, drehte der Junge den Kopf, und Überraschung zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab. Sheila mußte lächeln, denn in dieser Haltung sah er plötzlich aus wie ein jüngeres Ebenbild
Weitere Kostenlose Bücher