0980 - Die Rächerin
meine Wohnung gelassen. Man konnte ihr keinen Vorwurf machen. Vielleicht hatte sie auch etwas vom Besuch des oder der Mörder mitbekommen. Ich würde sie fragen müssen. Ich musste so vieles tun. Ich konnte mich nicht hinsetzen und die Hände in den Schoß legen. All die Dinge, die eigentlich normal waren, würden auf mich einstürmen wie ein Gewitter und mich verwirren. Zum Glück konnte ich mich da auf meine Freunde verlassen.
Mit schleppenden Schritten ging ich zur Tür. Mein Gesicht glich einer Maske. Die Gefühle hatte ich ausgesperrt, sie zeigten sich nicht in meinen Augen, wie ich mit einem Blick in den Spiegel feststellen konnte.
Draußen wurde die Dunkelheit von der Morgendämmerung abgelöst. Der neue Tag lag vor mir. Er würde warm und sonnig werden.
Für mich waren es Randerscheinungen, die mich nicht interessierten. Normalerweise hätte ich mich unter die Dusche gestellt, weil ich so verklebt war. In einer Situation wie dieser hier verzichtete ich gern darauf und trat in den Flur. Hier war es etwas kühler. Zur Nachbarwohnung waren es noch zwei Schritte. Ich ging sie langsam und fühlte mich um Jahre gealtert.
Ich hätte die Wohnung der beiden auch mit einem Nachschlüssel betreten können. Darauf verzichtete ich jedoch – ich klingelte. Ich würde Suko aus dem ersten tiefen Schlaf reißen, aber das ließ sich nicht vermeiden. So presste ich den Finger auf den Klingelknopf und lauschte dem Klang der Glocke.
In der Stille hörte sie sich sehr laut an, als wollte sie Tote aufwecken. Aber das konnte sie nicht schaffen. Eva und Yakup würde niemand mehr zurückholen.
Lange brauchte ich nicht zu warten. Ich dachte diesmal auch an nichts. Mein Kopf war plötzlich leer.
Suko starrte mich an. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er die Tür geöffnet hatte. »Komm rein«, sagte er nur…
***
Wir tranken Tee, saßen da und schwiegen. Nur hin und wieder gab es ein Geräusch, dann knarrte das Rattan-Material, wenn sich einer von uns bewegte, ansonsten war es totenstill.
Ich hatte den beiden alles erzählt. Leise, mit stockender Stimme.
Immer wieder hatte ich pausieren müssen und zwischendurch getrunken. Aber den fremden Geschmack in meiner Kehle bekam ich so leicht nicht weg. Ebenso verhielt es sich mit dem Blutgeruch, der noch in meiner Nase steckte.
Es war schlimm. Ich hatte nicht die richtigen Worte gefunden, und Suko war es, der sich erhob. Er zeigte mir meinen Wohnungsschlüssel. »Ich werde hinübergehen.«
»Tu das.«
Shao blieb. Wir schauten Suko nach, wie er die Wohnung verließ.
Im Flur war es noch immer ruhig, als wollten die Mieter des Hauses die Totenruhe nicht stören.
Draußen explodierte der Himmel. Im Osten loderte ein rötlichgelber Schein über den Himmel, der speerartig in die Wolkenwände der entschwindenden Nacht eindrang.
Shao schaute mich an. Ich blickte in ihr Gesicht und umklammerte meine Teetasse. Dabei sah ich Tränen in den Augen der aparten Chinesin. Sie stockte, als sie zum Sprechen ansetzte, da wusste ich schon, was sie sagen wollte.
Sie ließ sich auch nicht von meiner Handbewegung beirren und brachte den Satz noch einmal flüsternd hervor.
»Ich habe sie in deine Wohnung gelassen, John. Ich bin schuld. Hätte ich es nicht getan, wäre das alles nicht passiert. Dann würden die beiden noch leben.« Sie fing wieder an zu weinen und ich spulte meine Antwort ab wie ein Uhrwerk.
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Shao. Du bist nicht schuld an ihrem Tod. Wären sie nicht drüben in meiner Wohnung gestorben, hätte es sie woanders erwischt. Denk daran. Hämmere es dir bitte ein, Shao. So ist es nun mal.«
»Ich habe versagt.«
»Das hast du nicht.«
Sie schneuzte ihre Nase und rieb sich die Augen. »Ich konnte ja nicht wissen, dass man ihnen auf den Fersen war und sie umbringen wollte.«
»Stimmt«, sagte ich leise und trank Tee. Er war kalt geworden, schmeckte jetzt bitter.
»In der Nacht ist es passiert.« Ich nickte.
»Gehört habe ich nichts.«
»Genau das ist der Punkt, Shao; danach habe ich dich fragen wollen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich wollte wissen, ob du etwas gehört hast, als Suko und ich noch nicht zurück waren…«
Sie unterbrach mich. »Nein, John, ich habe nichts gehört. Ich wünschte mir, etwas gehört zu haben, aber das ist leider nicht der Fall gewesen. Es war alles still. Sie müssen lautlos wie die Schatten gewesen sein. Ich konnte nichts hören.«
»Das dachte ich mir. Aber ich möchte noch einmal darauf zurückkommen,
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