0982 - Die Kinder der Zeitsäufer
Atems auf der Haut. Gleich würde sie wissen, wie sich seine Lippen anfühlten, wie sie schmeckten.
Doch stattdessen hörte sie ein lautes Schnauben. Ein Schwall feuchter, warmer, übel riechender Luft klatschte ihr ins Ohr und kitzelte sie.
Sie riss die Lider auf und setzte sich kerzengerade hin. Als sie den Kopf zur Quelle des Luftstroms drehte, sah sie in sanfte, mandelförmige Augen. Vor ihr stand ein Galgo Español, ein spanischer Windhund.
»Arlo!« Sie lachte. »Böser Hund! Einen schlechteren Zeitpunkt hättest du dir kaum aussuchen können.«
Der Galgo schnupperte seinem Frauchen im Ohr. Araminta strich ihm ein paar Mal über das kurze, schwarze Fell und kraulte ihn.
»Und jetzt mach, dass du wegkommst. Fang einen Hasen oder jag Insekten, aber lass uns alleine, ja?«
Auch Javier lachte.
Der Zauber der Situation war zwar verflogen, aber zumindest hatte er die Unsicherheit gleich mit sich genommen.
»Tut mir leid.«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Kein Problem. Jetzt weiß ich wenigstens, woher der Begriff Anstandswauwau kommt. Außerdem war mir klar, dass ich dich nur zusammen mit deinem tierischen Schatten bekommen kann.«
Sie sah zu Arlo, der inzwischen am Rande eines Olivenhains saß. Er hielt den Kopf leicht schief und beobachtete einen Schmetterling. Die Ohren halb aufgerichtet, nur die Spitzen hingen zur Seite.
»Mein tierischer Schatten. Das ist er wohl. Als ich ihn bekam, war er zwei Monate alt. Ich war drei Jahre. Seitdem war er immer bei mir. Manchmal sogar in der Schule.«
Javier lachte.
»Mit sechs«, fuhr sie fort, »bin ich bei einer Wanderung in den Rio Poqueira gefallen und hab mir den Kopf angeschlagen. Meine Eltern merkten nichts davon, weil sie sich wieder mal stritten. Das muss gewesen sein, kurz bevor meine Mutter…« Araminta schluckte und stockte für einen Augenblick. »Hätte Arlo mich nicht am Kragen aus dem Wasser gezerrt, wäre ich ertrunken.«
»Ehrlich? Das wusste ich nicht.« Nun sah auch Javier zu dem Windhund hinüber. »Da muss ich ihm ja dankbar sein!«
Araminta lächelte, doch ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest.
»Was ist denn?«, wollte Javier wissen.
»Er ist jetzt dreizehn. Der Galgo unserer Nachbarn ist mit zwölf gestorben - ein gutes Alter für diese Rasse. Ich fürchte… ich muss mich langsam daran gewöhnen, dass Arlo nicht ewig mein Schatten sein wird.«
Javier streichelte ihr über die Hand.
»Aber ich will das nicht!«, sagte sie. »Er ist nur ein Hund, ich weiß. Aber er ist für mich… ach, ich weiß auch nicht, wie ein Bruder. Ich will ihn nicht verlieren.«
Die Berge, der Olivenhain und Arlo verschwammen hinter einem Film aus Tränen, von denen eine ihr über die Wange kullerte. Mit dem Jackenärmel wischte sie sich übers Gesicht. »Por Dios! Wie peinlich.«
Der Junge lächelte. »Ach was! Ich kann das verstehen. Ich wünschte, ich hätte so einen Freund gehabt. Stattdessen hatte ich einen Vater, der sich in die Arbeit flüchtete.«
Araminta wusste, was Javier meinte. Seine Mutter war im Kindbett gestorben. Danach hatte Alejandro Cruz, ein Bergbauer, den Hof nicht nur alleine führen, sondern auch noch für einen Sohn sorgen müssen, dem er zumindest unterbewusst die Schuld am Tod seiner Frau gab.
Ob das der Wahrheit entsprach, vermochte sie nicht zu sagen. Sie hatte die Geschichte so von ihrem Vater gehört, aber der konnte Javier nicht ausstehen. Also hatte er womöglich seine Abneigung in die Erzählung mit einfließen lassen.
Warum er den Jungen nicht mochte, war ihr schleierhaft. Lag es nur daran, dass Enrique Moriente Bürgermeister und wohlhabendster Einwohner des Bergdorfs Abruceta war und sich etwas Besseres als den Sohn eines einfachen Bergbauern für seine Tochter wünschte? Oft genug hatte er ihr das gepredigt - und das, obwohl sie mit Javier noch gar nicht so richtig zusammen war. Aber offensichtlich baute der umsichtige Erziehungsberechtigte vor…
Manchmal beschlich sie das Gefühl, dass es weniger Javier war, dem die Abneigung Enrique Morientes galt, als vielmehr Javiers Vater, dem Bergbauern. Doch hierfür konnte sie sich erst recht keinen Grund vorstellen.
Ganz im Gegenteil! Schließlich hatten die Väter doch einen ähnlichen Schicksalsschlag erlitten, denn auch Aramintas Mutter lebte nicht mehr. So unglaublich banal es klang, aber sie war beim Putzen die Treppe hinuntergefallen und hatte sich das Genick gebrochen. Gerade mal sechs Jahre alt war Araminta damals gewesen.
Andere Männer hätte dieses
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