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Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

Titel: Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annabel Pitcher
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    Meine Schwester Rose lebt auf dem Kaminsims. Na gut, ein Teil von ihr. Drei Finger, ihr rechter Ellbogen und ihre Kniescheibe liegen in einem Grab in London. Mum und Dad haben sich furchtbar gestritten, als die Polizei nur noch zehn winzige Teile von ihr gefunden hatte. Mum wollte ein Grab, wo sie hingehen konnte. Dad wollte eine Einäscherung und die Asche ins Meer streuen. Das hat Jasmine mir erzählt. Sie kann sich besser erinnern. Ich war erst fünf, als es passiert ist. Jasmine war zehn. Sie war Rose’ Zwillingsschwester. Und für Mum und Dad bleibt Jasmine immer zehn. Nach der Beerdigung haben sie Jas jahrelang so wie Rose angezogen – Blümchenkleid, Strickjacke, flache Schuhe mit Schnallen. Und ich glaube, deshalb ist Mum vor einundsiebzig Tagen auch mit dem Mann aus der Trauergruppe abgehauen. Jas hat sich nämlich an ihrem fünfzehnten Geburtstag die Haare kurz schneiden und rosa färben und sich ein Nasenpiercing machen lassen. Danach hat sie gar nicht mehr wie Rose ausgesehen. Das haben meine Eltern nicht gepackt.
    Beide haben fünf Teile bekommen. Mums Teile liegen in einem hübschen weißen Sarg, und auf einem hübschen weißen Grabstein steht »Mein Engel«. Dad hat ein Schlüsselbein, zwei Rippen, ein Stück vom Schädel und einen kleinen Zeh verbrennen lassen. Die Asche ist jetzt in einer goldenen Urne. Sie haben also beide gekriegt, was sie wollten, aber glücklicher sind sie deshalb nicht, was mich auch nicht wundert. Mum meint, der Friedhof sei zu deprimierend, sie könne da nicht hingehen. Und Dad will an jedem Jahrestag die Asche verstreuen, überlegt es sich dann aber jedes Mal anders. Immer wenn Rose ins Meer geschüttet werden soll, kommt irgendwas dazwischen. In dem einen Jahr in Devon wimmelte es von silbernen Fischen, die Rose scheinbar gleich fressen wollten. Ein andermal, in Cornwall, kackte eine Möwe auf die Urne, als Dad sie grade aufmachen wollte. Ich lachte, aber Jas sah so traurig aus, dass ich gleich wieder aufhörte.
    Wir sind aus London weggezogen, um Abstand zu kriegen. Dad kannte einen, der wieder einen anderen kannte, und der hatte ihm was von einem Job im Lake District erzählt. In London hatte Dad schon ewig keine Arbeit mehr gehabt. Wir haben eine Rezession, das heißt, das Land hat kein Geld, und deshalb wird kaum was gebaut. Als Dad den Job in Ambleside bekam, verkaufte er unsere Wohnung und mietete ein kleines Haus. Mum blieb in London. Ich hatte mit Jas ganze fünf Pfund gewettet, dass Mum uns noch zum Abschied winken würde. Jas verlangte das Geld nicht, als ich verlor. Im Auto sagte sie, wir sollten Ich sehe was, was du nicht siehst spielen, aber als ich Es ist orange sagte, kam sie nicht mal auf Roger, obwohl der auf meinem Schoß saß und so laut schnurrte, als wollte er ihr einen Tipp geben.
    Hier sieht es ganz anders aus als in London. Es gibt Berge, die so hoch sind, dass sie Gott in den Po pieken könnten, und haufenweise Bäume. Und es ist still. Hier sind keine Leute , sagte ich, als wir das Haus an der kurvigen Straße gefunden hatten und ich nirgendwo andere Kinder sah. Keine Muslime, verbesserte mich Dad und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Jas und ich lächelten nicht, als wir ausstiegen.
    Unser Haus ist das genaue Gegenteil von unserer Wohnung in Finsbury Park. Es ist weiß statt braun, groß statt klein und alt statt neu. Mein Lieblingsfach in der Schule ist Kunst, und wenn ich Häuser als Menschen malen sollte, würde unser Haus eine verrückte alte Oma sein, die einen zahnlos angrinst. Die Wohnung in London wäre ein strenger Soldat zwischen Männern, die genau gleich aussehen. Mum würde diese Bilder bestimmt toll finden und sie ihren Schülern zeigen.
    Obwohl Mum in London geblieben ist, bin ich froh, dass wir weggezogen sind. Ich hatte nur ein ganz kleines Zimmer, aber Rose’ Zimmer durfte ich nicht haben, weil sie tot ist und ihre Sachen heilig sind. Das kriegte ich immer zu hören, wenn ich danach fragte. Rose’ Zimmer ist heilig, James. Du darfst da nicht reingehen, James. Es ist heilig. Ich verstehe nicht, was an einem Haufen alter Puppen, einer müffelnden rosa Decke und einem abgegrapschten Teddybär so heilig sein soll. Ich fand nichts heilig, als ich einmal nach der Schule auf Rose’ Bett rumgehopst bin. Jas hat dann gesagt, ich soll aufhören, aber sie hat mich nicht verpetzt.
    Als wir aus dem Auto stiegen, blieben wir stehen und schauten unser neues Haus an. Die Sonne ging grade unter, die Berge leuchteten orange, und ich

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