1 Fatale Bilanz - Ein Hamburg-Krimi
Matthias hielt den Atem an, nichts geschah. Das war kein Amokschütze, trotzdem … Er musste etwas unternehmen. Es waren keine weiteren Schüsse gefallen, und seine Geduld war zu Ende. Er richtete sich auf. Als Sandra ihn zurückhalten wollte, winkte er ab.
»Wir können schlecht morgen noch hier sitzen. Von da oben kann er uns auch hier erwischen. Wenn er will.«
Sein bestimmter Ton war nur halbwegs gelungen, überzeugt wirkte Sandra nicht und auch sein Puls raste, als er mit der Dienstwaffe in der Hand in gebückter Haltung auf den Mercedes zulief.
»Polizei! Alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Sieht es so aus, als ob irgendwas in Ordnung wäre?« Der Fahrer, der sich hinter dem Lenkrad zusammengekauert hatte, rappelte sich hoch und stieg offensichtlich unverletzt aus. »Was ist hier los?«
Soviel zum Thema geschocktes oder verängstigtes Opfer. Matthias setzte zu einer passenden Antwort an, doch Sandra kam ihm zuvor.
»Das würden wir gerne von Ihnen erfahren. Den Fahrzeugschein und Ihre Papiere.«
Der Blick durch das Zielfernrohr war überflüssig. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal ein Ziel verfehlt hatte, und keiner der abgegebenen Schüsse hatte eine besondere Herausforderung dargestellt. Nur das Verhalten des Polizisten war eine Überraschung gewesen. Statt in Deckung zubleiben, hätte er beinahe seinen Standort entdeckt. Aber das zerschossene Blaulicht war als Warnung definitiv angekommen. Mit routinierten Handgriffen zerlegte er das Scharfschützengewehr.
Den Rucksack mit den Einzelteilen der Waffe neben sich, genoss er einige Sekunden den Ausblick auf den Hafen, der wie eine Postkartenidylle vor ihm lag. Es war Zeit, die Aussichtsplattform im Glockenturm des Michel zu verlassen. Weder das sieben Kilo schwere Gewehr noch die ausgetretenen Stufen der Wendeltreppe störten ihn beim Abstieg aus ungefähr achtzig Meter Höhe. Auf dem Weg zu der Seitentür, durch die er den Michel betreten hatte und jetzt verlassen wollte, blieb er inmitten des halbdunklen Kirchenschiffs stehen. Die tief stehende Sonne fiel auf die Jesusfigur, die über dem Holzaltar thronte. Das Spiel von Licht und Schatten war faszinierend.
»Vergebung? ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ gefällt mir besser. Statt auf ausgleichende Gerechtigkeit zu vertrauen, nehme ich die Sache lieber selbst in die Hand.«
Zwiesprache mit einer Holzfigur? Er schüttelte den Kopf. Normalerweise hielt er sich nicht damit auf, sein Vorgehen zu rechtfertigen oder zu diskutieren.
Vorsichtig öffnete er die Seitentür einen Spalt. Der Vorplatz der Kirche war wie erwartet leer, wegen längst fälliger Sanierungsarbeiten war der Michel seit zwei Wochen nur in den Mittagsstunden für die Öffentlichkeit zugänglich, und die Handwerker hatten ihre Arbeit schon vor Stunden beendet. Auf der wenige Meter entfernten Ludwig-Erhard-Straße hastete eine Gruppe Geschäftsleute vorbei, aber niemand schenkte ihm oder der Kirche die geringste Aufmerksamkeit. Unbehelligt überquerte er an der nächsten Ampel die Straße und ging am Glaspalast des Deutschen Rings vorbei zum Großneumarkt.
Während Autofahrer ohne Anwohnerausweis in diesem Stadtviertel an der Parkplatzsuche schier verzweifelten, hatte er für sein Motorrad mühelos eine Lücke am Straßenrand gefunden. Er startete die Yamaha und fuhr über das Kopfsteinpflaster davon.
Mit einem unterdrückten Gähnen ließ Sven Klein, Kriminalhauptkommissar im Wirtschaftsdezernat des Landeskriminalamtes, seinen Blick über den Freihafen und die U-Bahnbrücke schweifen. Der Kaffee in seinem Plastikbecher war kaum genießbar und die Erklärungen des Kollegen, der bisher die Leitung vor Ort übernommen hatte, zu ausschweifend. Seit den Schüssen war eine knappe Stunde vergangen, der Tatort war weiträumig abgesperrt, und der Verkehr wurde über die Ost-West-Straße umgeleitet. Er verzog den Mund, als ihm bewusst wurde, dass er wie fast alle Hamburger weiterhin die alte Bezeichnung benutzte, obwohl der Abschnitt zwischen Deichtor und Rödingsmarkt seit 2005 offiziell Willy-Brandt-Straße hieß. Tagsüber hätte die Sperrung zu einem Verkehrschaos geführt, aber mittlerweile waren Berufsverkehr und Touristen von den Straßen verschwunden. Das enorme Aufgebot an Polizeibeamten wunderte ihn nicht, es kam glücklicherweise nicht jeden Tag vor, dass auf einen Streifenwagen geschossen wurde. Beamte der Abteilung für kriminaltechnische Untersuchungen – kurz KTU – versuchten mit Laserpointern, aus den
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