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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Selbstmordversuchen. Am Ende, wenn er die Regeln der Konfrontation nicht mit dem Herzen – denn das ist ihm nicht gegeben –, sondern mit seinem kalten, kompromisslosen Verstand akzeptiert hätte. Die Gesetze, nach denen das Licht und das Dunkel ihren Krieg austragen, die Gesetze, nach denen wir uns von einem Tiermenschen abwenden müssen, der ein Opfer verfolgt, und die eigenen Leute töten müssen, wenn sie sich nicht abwenden.
    Jetzt stand er vor mir. Der Lichte Magier, der innerhalb einiger Jahre mehr Dunkle zur Strecke gebracht hatte als ein Fahnder in hundert Dienstjahren. Ein einsames, zu Tode gehetztes Tier. Das zu hassen vermag, aber nicht zu lieben.
    Ich drehte mich um und packte Jegor bei den Schultern, der nach wie vor bloß dastand, ruhig, ohne sich zu rühren, und angespannt unserm Streit zuhörte. Zog ihn vor mich.
    »Er ist also ein Dunkler Magier?«, fragte ich. »Vermutlich. Ich fürchte, du hast Recht. Noch ein paar Jahre, und dieser Junge realisiert seine Möglichkeiten. Wird durchs Leben gehen, während sich das Dunkel um ihn herum in Bewegung setzt. Mit jedem Schritt wird sein Leben leichter und leichter. Für jeden Schritt zahlt ein anderer mit seinen Schmerzen. Erinnerst du dich noch an das Märchen von der Meerjungfrau? Die Meerhexe hat ihr Beine gegeben, sodass sie gehen konnte, aber in ihre Füße schienen sich glühende Messer zu bohren. So ist es auch mit uns, Maxim! Wir gehen ständig über Messer, ohne uns daran zu gewöhnen. Nur dass Andersen nicht alles erzählt hat. Die Meerhexe hätte nämlich auch eine andere Möglichkeit gehabt. Die Meerjungfrau hätte laufen können, während die Messer jemand anderen gequält hätten. Das ist der Weg des Dunkels.«
    »Meinen Schmerz ertrage ich selbst«, sagte Maxim. Und erneut keimte eine wahnsinnige Hoffnung in mir auf, er könne das alles doch verstehen. »Aber das darf nichts ändern.«
    »Bist du bereit, ihn zu töten?« Ich nickte mit dem Kopf in Jegors Richtung. »Maxim, bist du das? Ich bin ein Mitarbeiter der Wache, ich kenne die Grenze zwischen Gut und Böse. Selbst wenn du Dunkle umbringst, kannst du etwas Böses anrichten. Also, bist du bereit, ihn umzubringen?«
    Er zögerte nicht. Nickte. Sah mir voller Sanftmut und Freude in die Augen. »Ja. Ich bin bereit, denn ich weiche nie vor den Ausgeburten des Dunkels zurück. Auch diesmal nicht.«
    Die unsichtbare Falle war zugeschnappt.
    Ich hätte mich nicht gewundert, wenn Sebulon plötzlich neben uns gestanden hätte. Aus dem Zwielicht aufgetaucht und Maxim lobend auf die Schultern geschlagen hätte. Oder mir amüsiert zugelächelt.
    Doch im nächsten Moment begriff ich, dass Sebulon nicht kommen würde. Niemals.
    Die aufgestellte Falle musste nicht beobachtet werden. Die funktionierte auch so. Ich war hineingetappt, und jeder Mitarbeiter der Tagwache hatte für diesen Moment ein wasserdichtes Alibi.
    Entweder erlaubte ich Maxim, den Jungen umzubringen, der ein Dunkler Magier werden würde. Dann würde ich zu seinem Komplizen – mit allen daraus resultierenden Folgen.
    Oder ich ließ mich auf einen Kampf ein. Vernichtete den Wilden, letzten Endes ließen sich unsere Kräfte doch nicht vergleichen. Liquidierte eigenhändig meinen einzigen Zeugen und – als sei das nicht genug – brächte einen Lichten Magier um.
    Denn Maxim würde nicht nachgeben. Das war sein Krieg, sein kleines Golgatha, seit ein paar Jahren schon schleppte er sich diesen Hügel hinauf. Für ihn gab es nur Sieg oder Tod.
    Und warum sollte Sebulon selbst in den Kampf eingreifen?
    Er hatte alles richtig gemacht. Die Reihen der Dunklen vom Ballast befreit, mich kompromittiert, mir Angst eingejagt, sogar etwas Dramatik ins Spiel gebracht, als er an mir vorbeischoss. Hatte mich dem Wilden in die Arme getrieben. Jetzt war Sebulon weit weg. Vielleicht noch nicht einmal in Moskau. Möglicherweise beobachtete er die Ereignisse: Es gibt genug technische und magische Mittel, die das ermöglichen. Beobachtete und feixte sich eins.
    Ich war reingefallen.
    Was auch immer ich jetzt tat, ich würde im Zwielicht enden.
    Das Böse ist nicht darauf angewiesen, das Gute eigenhändig zu vernichten. Wie viel leichter ist es, wenn man den Guten erlaubt, aufeinander loszugehen.
    Die einzige Chance, die mir noch blieb, war verschwindend klein und ungeheuerlich gemein.
    Würde nicht klappen.
    Ich musste Maxim gestatten, den Jungen umzubringen, nun ja, nicht gestatten, sondern einfach nicht eingreifen. Danach würde er sich beruhigen.

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