100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder
führte mich in sein Büro. Seine Augen wurden groß, als ich mich vorstellte, allerdings nicht vor Bewunderung, sondern vor Schreck. Er sah mich einen Augenblick an, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. „Wissen Sie schon soviel, daß Sie annehmen können, daß etwas…“
„Ich weiß noch viel zu wenig“, unterbrach ich ihn. „Aber ich müßte blind sein, wenn ich nicht erkannt hätte, daß manches nicht stimmt. Die Leute in Gehrdorf wollen etwas vertuschen.“
Er nickte erleichtert. „Ja, mit Gehrdorf stimmt eine ganze Menge nicht. Seit ich dort war, um für meinen Bericht die Villa zu fotografieren und mit dem Mädchen zu reden, weiß ich, daß eine ganze Menge faul ist. Die Gemeinde hier hat ja Kopien der Gehrdorfer Meldekartei. In den letzten zehn Jahren gab es zwar einen gewaltigen Geburtenrückgang, aber noch immer Nachwuchs genug. In den beiden Tagen, die ich dort war, habe ich außer dem Bergen-Mädchen kein Kind gesehen. In die Schule ließ man mich nicht rein. Ich weiß nicht, wo und warum sie sie verstecken. Aber ist es nicht absurd?“
„Ja“, sagte ich. „Eine Entdeckung, die ich auch machte. Allerdings war ich zu kurz dort, um sie für bedeutungsvoll zu halten. Was fiel Ihnen noch auf?“
„Wir erfuhren von Sterbefällen immer erst nach dem Begräbnis. Und dann ist da eine Sache, über die ich immer wieder grüble, obwohl es sich sicher nur um einen Irrtum handeln kann.“ Er brach ab.
„Nämlich?“ fragte ich interessiert.
Es schien ihm schwerzufallen, davon zu sprechen. „Vor anderthalb Jahren starb ein gewisser Steinseifer. Ich habe mir beim letzten Besuch in Gehrdorf das Grab angesehen.“
„Und?“
„Durch Zufall hatte ich ihn vor seinem Tod schon einmal gesehen, und ich präge mir Gesichter verdammt genau ein. Als ich das Haus der Bergens fotografierte, beobachtete mich das halbe Dorf, daß ich mir vorkam, als tat ich etwas Verbotenes. Unter den Zuschauern, die um mich rumstanden, war auch dieser Steinseifer. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich bin ziemlich sicher, daß ich mich nicht irre.“
„Was vermuten Sie?“ fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. „Ich vermute lieber gar nichts, aber wahrscheinlich fälschen sie die amtlichen Unterlagen. Doch wozu?“ Er sah mich an. „Wozu erklärt man Leute für tot, die es nicht sind? Was haben diese verdammten Bauern dort vor?“
„Warum hat Sie meine Anwesenheit so erschreckt?“
„Warum sollte sie das?“ fragte er, aber es klang schuldbewußt.
„Machen Sie mir nichts vor, Herr Schwaber. Ich verstehe eine ganze Menge von Gefühlen, und ich kann eine Miene recht genau deuten, wenn ich sie sehe. Sie haben Angst – nicht viel, aber genug. Und ich weiß auch wovor“, fügte ich rasch hinzu. „Daß ich mich für die Angelegenheit interessiere, weckt Ihre alten Zweifel, daß an den Worten des Mädchens doch etwas dran sein könnte.“
Er gab keine Antwort.
„Es ist vieles ungewöhnlich, nicht wahr?“ fuhr ich fort. „Die drei Selbstmorde in diesem Haus. Das abweisende Verhalten der Einwohner. Das Mädchen, das ihre tote Mutter zu sehen vermeinte.“ Ich lächelte unwillkürlich über sein starres Gesicht. „Sie haben Angst vor Geistern, nicht wahr?“
„Es ist kein beruhigender Gedanke“, gestand er bedrückt.
„Das sollten Sie nicht. Sie sind meist nur unglückliche Menschen, die keinen Frieden finden.“
„Gibt es sie wirklich?“
„Ja“, erklärte ich einfach.
„Und Sie glauben, daß in Gehrdorf…“
„Ich glaube noch gar nichts. Aber die Gehrdorfer scheinen überzeugt davon zu sein.“ Ich berichtete ihm von meinem Besuch in dem Ort, verschwieg jedoch, daß ich den Schlüssel für das Haus besaß. „Aber ich lasse nicht locker“, schloß ich. „Ich muß Gewißheit haben.“
„Ich wollte, ich hätte sie auch“, murmelte er.
„Ich könnte Ihre Hilfe brauchen“, fuhr ich fort. „Ich brauche einen Mann, der hier Bescheid weiß. Das feindliche Verhalten der Gehrdorfer bringt eine Menge Risiken mit sich. Ich hatte den Eindruck, daß sie im Zweifelsfall auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Wie ist es, helfen Sie mir? Ich verhelfe Ihnen zu der, Gewißheit, die Sie gerne hätten. Und zu einer Menge Material für interessante Artikel.“
Er nickte erleichtert. „Ich bin froh, daß Sie gekommen sind. So sehr es mich beschäftigt, ich hatte nicht den Nerv, in dem Ort allein herumzuschnüffeln.“
„Haben Sie außer jenem Artikel über den Selbstmord seither irgend etwas
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